Kurz und schmerzlos wurde bei den Metallern verhandelt. Am Ende steht ein Kompromiss mit Weitsicht. Eine Analyse von Oliver Schade.

Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie folgen seit Jahrzehnten dem gleichen Muster. Am Anfang steht eine völlig überzogene Lohnforderung der Gewerkschaft IG Metall, die von den Arbeitgebern sofort brüsk zurückgewiesen wird. Dann naht die erste Tarifrunde irgendwo in der Provinz. Meist in Orten, die Böblingen, Sindelfingen oder Leinfelden-Echterdingen heißen. Dort schwenken mehrere Hundert, mit Bussen auf Kosten der IG Metall herbeigefahrene Beschäftigte, rote Gewerkschaftsfahnen, pusten in Trillerpfeifen aus Plastik und recken dem mutig lächelnden Verhandlungsführer der Arbeitgeber ihre Fäuste entgegen. Wenig später verschwinden die Funktionäre von IG Metall und dem regionalen Arbeitgeberverband hinter verschlossenen Türen, essen Kekse, trinken Kaffee und tauschen sich aus. Nach drei, vier Stunden öffnen sich die Türen und beide Kontrahenten sprechen mindestens zehn Meter voneinander entfernt Statements in die Mikrofone wartender Journalisten. Dann ist von "festgefahrenen Positionen", "schwierigen Gesprächen", "unmöglichen Forderungen" die Rede.

Das gleiche Prozedere findet siebenmal statt - denn so viele Bezirke mit ehrgeizigen Führungskräften hat die Gewerkschaft. Und jeder von ihnen möchte in Kameras lächeln und wichtig sein. Doch damit nicht genug. Eine Woche später folgt die zweite Tarifrunde in allen sieben Bezirken, dann die dritte, ... "Runden drehen", sagt dazu der IG-Metaller. Und er betont, dass diese Gespräche "ganz wichtig" seien, damit sich alle Bezirke und Mitglieder ernst genommen fühlen. Nach der dritten oder vierten Runde wird dann, angefeuert von Warnstreiks, ein sogenannter Pilotbezirk ausgewählt - meistens das von Branchenriesen wie Daimler, Porsche und Bosch dominierte Baden-Württemberg. Hier kommen eines Nachmittags die Verhandlungsführer wieder zusammen - mit dem Unterschied, dass es diesmal statt Keksen Brötchen gibt. Denn die Nacht wird lang. In einem Hotel in der Nähe sind die bundesweiten Chefs der IG Metall und des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall untergebracht, per Handy verbunden mit dem Zimmer, in dem es die Brötchen gibt. Dann wird gefeilscht - bis am nächsten Morgen nach dem viel zitierten "Verhandlungsmarathon" sich zum letzten Mal die Türen öffnen und den genervt wartenden Journalisten ein Kompromiss präsentiert wird, "mit dem wir alle leben können". Es war einmal.

Denn in diesem Jahr war alles ganz anders. Die IG Metall verzichtete auf eine Lohnforderung und Warnstreiks. Sie sprach nur kurz und knapp in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen mit den regionalen Arbeitgebern und bestimmte dann als Ort des Showdowns Düsseldorf. Es wurde eine Nacht lang verhandelt - und der Tarifkompromiss vom Rhein, den viele IG-Metaller schon als "revolutionär" bezeichnen, war fertig. Nicht nur der Verzicht auf überflüssige Rituale wird dabei von Experten wie dem Chefvolkswirt des Hamburger Wirtschaftsinstituts HWWI, Michael Bräuninger, als "einzigartig und beispielhaft" gepriesen. Auch der Inhalt begeistert das Fachpublikum. "Hier hat die Vernunft gesiegt", sagt Bräuninger. Eine Branche, die nach dem Auslaufen der Abwrackprämie für die Autoindustrie Gefahr läuft, eines der schwärzesten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zu erleben, rückt zusammen - Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Für das laufende Jahr gibt es für die Beschäftigten eine Einmalzahlung von 320 Euro und erst ab April 2011, wenn die Konjunktur wieder deutlich besser laufen dürfte, 2,7 Prozent mehr im Portemonnaie. Zudem wurden intelligente Wege gefunden, das erfolgreiche Instrument der Kurzarbeit auszuweiten, damit möglichst wenige Beschäftigte ihren Job dauerhaft verlieren (siehe Beistück).

Der Vater dieses Kompromisses hatte gestern gut lachen, als er sich der Presse stellte: Berthold Huber (60), Erster Vorsitzender der IG Metall. Der stets ein wenig übernächtigt aussehende gelernte Werkzeugmacher mit Philosophiestudium hat dieser Tarifrunde seinen Stempel aufgedrückt. Martialisch klingende Reden vor Fahnen schwenkenden Kollegen sind nicht seine Welt - obwohl er sie halten kann. Stattdessen arbeitet die frühere rechte Hand von Ex-IG-Metall-Vize Walter Riester lieber akribisch an komplizierten, aber innovativen Tarifmodellen. In den eigenen Reihen - bei den Fundamentalisten in der Gewerkschaft - ist er deshalb als "Egghead" verschrien. So konnte sich Huber auch erst gegen massive Widerstände in den eigenen Reihen an die Spitze der IG Metall kämpfen. Doch genau diesen Kopfmenschen brauchte die Gewerkschaft gerade jetzt - in Zeiten der schweren Wirtschaftskrise, die Zigtausend Jobs in der Branche bedroht. "Was ist ambitionierter, als Beschäftigung zu sichern in der größten Weltwirtschaftskrise seit 80 Jahren", sagte Huber denn auch gestern in Düsseldorf. Und Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser, der Huber seit Jahren großen Respekt entgegenbringt, sprach von einem "eindrucksvollen Zeichen gemeinsamen Krisenmanagements". Noch niemals zuvor sei in der Branche so früh eine Einigung auf friedlichem Wege erzielt worden.

Ganz ohne "Runden drehen" und unzählige Kilo Kekse.