Vor 75 Jahren wurde der Einkaufswagen erfunden. Er sollte die Kunden entlasten - doch denen war der Wagen peinlich. Ein Trick musste her.

Oklahoma City. Sylvan N. Goldman, Eigentümer der Humpty-Dumpty-Supermarktkette in Oklahoma City, sitzt noch spätabends in seinem Büro und brütet über einem Problem. Seine Kundinnen sind mit schweren Einkaufskörben bepackt, mehr können sie beim besten Willen nicht tragen. Wie ist den überforderten Frauen zu helfen? Schließlich kommt Goldman ein ebenso einfacher wie genialer Gedanke: Mit einem fahrbaren Vehikel könnten sie weitaus mehr Waren einsammeln. Am 4. Juni 1937 präsentiert Goldman erstmals seine rollenden Transporthilfen. Es ist die Geburtsstunde des Einkaufswagens. Nach 1945 gelangen die Wagen auch nach Deutschland - zuerst in einen SB-Markt in Hamburg.

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Was heute selbstverständlich scheint, war vor 75 Jahren völlig unbekannt. Zwar hatte Frank W. Woolworth bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts Supermärkte mit Selbstbedienung und handlichen Tragekörben in seiner Warenhauskette eingeführt. Aber Goldman geht nun einen Schritt weiter. Gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Fred Jung entwickelt er aus einem Klappstuhl einen fahrbaren Warenkorb.

Sie montieren Räder an die Unterseite der Stuhlbeine und installieren anstelle der Sitzfläche zwei Metallkörbe. Dieser Umbau wird direkt vermarktet, Goldman schaltet eine Anzeige in der lokalen Zeitung. Die Werbung zeigt eine vom Gewicht ihres Einkaufskorbs völlig erschöpfte Frau. Um die Vorzüge des neuen Wagens anzupreisen, lautet der Reklametext: "Es ist neu - es ist sensationell. Nie wieder Körbe schleppen."

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Allerdings erweist sich die geniale Idee zunächst als Flop: Die Kundinnen und Kunden wollen die neue Erfindung partout nicht nutzen. Das hat zwei Gründe: Männer möchten nicht als Schwächlinge dastehen, die nicht einmal den Einkauf für die Liebste oder die Familie wuchten können und dafür eine Karre brauchen. Frauen möchten den Eindruck vermeiden, sie würden ständig einen Kinderwagen schieben. Goldman lernt schnell und greift zu einem Trick. Anstatt aufzugeben, stellt er Mitarbeiter beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Alters ein. Die Mitarbeiter gaukeln den Kunden einen unbeschwerten Einkauf mit den randvollen Wagen vor und bugsieren die Gefährte tagelang lässig und mühelos durch die Gänge von Humpty Dumpty.

Das funktioniert. Schon bald sind die rollenden Warenkörbe aus Goldmans Filialen nicht mehr wegzudenken. Und auch die Konkurrenz erkennt schnell die Vorteile der neuen Transportmöglichkeiten. Bei Goldmans Patentanmeldung am 15. März 1938 sind die Einkaufswagen so populär, dass sich Interessenten anderer Supermärkte auf eine Warteliste setzen lassen müssen und jahrelang ausharren, um eine Lizenz für die neuen Rollwagen zu erhalten.

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1946 bringt Orla E. Watson aus Kansas City eine verbesserte Version des Einkaufswagens auf den Markt, das "telescoping shopping cart". Er hatte festgestellt, dass die Wagen vor seinem Geschäft immens viel Platz beanspruchen. Mit dem von ihm entwickelten Klappmechanismus können die Einkaufshilfen kompakt ineinandergeschoben werden. Goldman geht dagegen vor und präsentiert seinerseits ein ähnliches Patent. Drei Jahre später schließen die beiden einen Kompromiss. Watson darf weiter seine Modelle produzieren und Goldman verbessert sein ursprüngliches Design, indem er die Behältnisse vergrößert. Mit noch mehr Volumen können die Kunden noch mehr Waren kaufen, so seine Kalkulation. Sie geht auf.

In Deutschland entstehen Selbstbedienungsläden erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Am 30. August 1949, gut ein Jahr nach der Währungsreform, eröffnet die Hamburger Konsumgenossenschaft Produktion (Pro) in St. Georg den ersten Supermarkt. Die anfängliche Scheu, nicht mehr vom Kaufmann hinter der Ladentheke bedient zu werden, überwinden die Hamburger schnell. Im 170 Quadratmeter großen S 1 dürfen sich die Kunden Nudeln, Konservendosen und Backpulver auf dem Weg zur Kasse selber aus den Regalen nehmen. Die Firma Wanzl aus dem schwäbischen Leipheim liefert 20 Einkaufswagen des Modells Pick-up und 40 Einkaufskörbchen.

Wanzl steigt zum weltgrößten Produzenten von Einkaufswagen auf. Dank des Siegeszugs des Einkaufswagens stellen die Baden-Württemberger heute pro Jahr zwei Millionen Stück her. Die Pro macht mit dem erfolgreichen Selbstbedienungskonzept in den 50er-Jahren noch fünf weitere Läden auf. Das S 1 bleibt seinem Standort Beim Strohhause 32 Jahre treu und zieht später lediglich ein Haus weiter. Lebensmittel gibt es hier immer noch, heute in einem Real-Markt.

Seit Mitte der 60er-Jahre ist die Einkaufswelt immer weiter technisiert worden. Computergesteuerte Kassiersysteme mit Strichcodes sind heute Standard. Experimente mit sogenannten Future Stores, in denen der Kunde alle Waren selber einscannt und an der Kasse die Artikel anhand einer Liste online bezahlt, ohne alle Waren aufs Band zu stapeln und ohne Kassiererin, sind mittlerweile auch schon wieder überholt.

Nach den Wünschen der Supermarktbetreiber gehört die Zukunft dem Cybershopping. Dabei werden die Einkäufe übers Internet vom Heimcomputer oder vom Smartphone geordert, Einkaufswagen vor Ort sind dann überflüssig. Nachteilig dabei könnte sein, dass der Kunde nach dem Einscannen der Produkte andere Anbieter in der Nähe findet, die günstiger sind. Aber wollen die Verbraucher wirklich alles online bestellen? In Baumärkten und Garten-Centern hängt jede Kaufentscheidung vom persönlichen Augenschein, vom Anfassen und Angucken ab. Und da bleibt ein Einkaufswagen unverzichtbar.

Rund 20 Millionen gibt es heute in Deutschland. Die meisten lassen sich nur mit einem Ein-Euro- oder 50-Cent-Stück oder einer Pfandmünze aus dem Steckverschluss lösen. Im Ursprungsland USA sind Pfandschlösser so gut wie unbekannt, nur Aldi USA macht Ausnahmen. Dafür werden die Einkaufsvehikel heute immer aufwendiger ausgestattet: mit Kindersitzen und Baby-Körbchen, zweiter Stapelebene und einklappbaren Fußregalen. Je mehr alte Menschen es künftig in Deutschland geben wird, desto mehr Einkaufswagen werden auch für Rollstuhl- und Gehwagenfahrer umgerüstet werden müssen.

So nützlich Einkaufswagen sind - mit ihnen entstanden auch ein paar Probleme. Allein im vergangenen Jahr mussten in den USA fast 25 000 Kinder in Notaufnahmen der Krankenhäuser versorgt werden, die sich an einem Einkaufswagen verletzt hatten. Und weil die Verbraucher mit Einkaufswagen auch nicht gerade pfleglich umgehen, sind ihre verzinkten Oberflächen täglich großen Belastungen ausgesetzt. Länger als zehn Jahre hält kein Einkaufswagen, hat die Bundesstiftung Umwelt ausgerechnet. Pro Jahr müssen rund zwei Millionen Exemplare ausgemustert werden. Dabei fallen 25 000 Tonnen Stahlschrott und 200 Tonnen Zink an. Aus Kostengründen geht der Trend heute dahin, einen Teil des Materials zu recyceln.

Gern werden die Wagen auch zweckentfremdet und entführt. Jugendliche fahren damit umher, Obdachlose nutzen sie für ihren "Hausstand", manche Wagen dienen als Wäschekorb. Die Hotline "Saubere Stadt" der Stadtreinigung Hamburg vermerkte allein im April dieses Jahres 18 herrenlose Einkaufswagen, die von hilfsbereiten Bürgern auf Gehwegen und in Parks gemeldet wurden. Trotz Diebstahlsicherung kommen deutschlandweit pro Jahr 100 000 Wagen abhanden, schätzt der Hauptverband des deutschen Einzelhandels.

Rein statistisch wird demnach jeder 20. Wagen innerhalb eines Jahres gestohlen. Beim Stückpreis von gut 100 Euro ist das ein erheblicher Schaden für die Handelsketten. 75 Jahre nach der Erfindung des Einkaufswagens freuen sich die Händler da über jeden Nutzer der guten alten Handkörbe.