Hamburg. Das Überwinden der Religion halten viele für eine aufklärerische Leistung. Was für ein Irrtum!

Am Heiligen Abend besinnen sich viele Deutsche noch einmal ihrer fast gekappten Wurzeln – dann werden die alten Lieder angestimmt, Traditionen wiederbelebt, und auch der Gang in die Kirche gehört irgendwie dazu. Der Glaube, er ist in Deutschland für viele zu einem Accessoire geworden, das zu passenden Anlässen angelegt wird. Ein wirklicher Teil des Lebens ist er für die meisten nicht mehr.

Ganz im Gegenteil: Kulturstaatsministerin Claudia Roth kämpft gegen eine Kuppelinschrift und das Kreuz auf dem wiederaufgebauten Schloss, das Auswärtige Amt hängt beim G-7-Gipfel in Münster ein historisches Kreuz ab. Das Kreuz kann weg. Das zeigen auch die Zahlen: Im Jahr 2021 ist die Zahl der Kirchenmitglieder unter die Marke von 50 Prozent gerutscht. Man muss kein Hundertjähriger sein, um sich der Zeiten zu erinnern, als man entweder katholisch oder evangelisch war und Kirchen Volkskirchen waren.

Wolfgang Thierse kritisiert bei vielen einen falschen Freiheitsbegriff

Zur Glaubensfreiheit gehört die Freiheit, nicht zu glauben. Aber ich habe mich an einem Satz festgebissen, den Wolfgang Thierse, Sozialdemokrat und Katholik, der „Zeit“ in den Block diktierte: „Mich ärgert die modische Geringschätzung der Institutionen, bei der Kirche ebenso wie beim Rechtsstaat. Wir leben in einem Staat, der christlich geprägt ist“, sagte er. Das könne man nicht einfach wegwischen, als lebten wir in einem säkularen Land. Er kritisiert bei vielen einen falschen Freiheitsbegriff: „Sie wollen Regisseure ihres Lebens sein, aber degradieren ihre Mitmenschen zu Statisten.“

Interessant ist seine eigene Geschichte als Ostdeutscher. „Ich habe eine mildere Einstellung zur Kirche, weil ich sie nur kenne als eine kritisierte, beschimpfte, verteufelte Institution, die man gefälligst zu verlassen hat, wenn man ein intelligenter Mensch ist.“ Da wirkt das Deutschland 2022 wie die DDR 1982. Einige Jahre später war man im Osten klüger.

Hiob ist Zeitgeist

So stellt sich die Frage, was wir gewinnen, wenn wir den Glauben und die Kirche verlieren. Stand heute würde ich sagen: Nicht viel. Denn der Mensch ist ein religiöses Wesen – wenn er Halt sucht, findet er ihn anderswo. Angesichts der Fülle der Ersatzreligionen gibt es Angebote genug. Ob die aber besser sind als die zu Recht kritisierten Kirchen, steht noch dahin.

Zumal mit dem Verblassen des Christentums ausgerechnet dunklere Kapitel der Religionsgeschichte wieder hervorgezerrt werden. Der US-Philosoph Eric Hoffer wusste, dass Religionen nicht unbedingt einen Gott benötigen – aber einen Teufel. Und die gibt es heute reichlich. Hiob ist Zeitgeist: Wie Endzeitprediger erwartet die Letzte Generation die Apokalypse. Da ist die Klimakatastrophe für manche Ersatzreligion. Wer den menschengemachten Treibhauseffekt in Abrede stellt, ist ein Klimaleugner und wird vom Tisch der neuen Damen und Herren verstoßen. Wer nicht klimagefällig lebt, heißt Klimasünder. Zugleich wird der Ablasshandel wieder eingeführt, damit man sein luxuriöses Leben guten Gewissens weiterleben und jede Flugmeile kompensieren kann. Um nicht missverstanden zu werden: Am Klimaschutz führt kein Weg vorbei, aber bitte ohne religiösen Furor. Hört auf die Wissenschaft.

Die Pandemiebekämpfung bekommt etwas Pseudoreligiöses

Drolligerweise kommen viele Ideologien aber nicht mehr ohne einen religiösen Überbau aus. Selbst die Pandemiebekämpfung bekommt etwas Pseudoreligiöses, wenn Corona-Eiferer von Zero-Covid-Strategien träumen und jeden Andersdenkenden als Corona-Leugner abstempeln. Auf der anderen Seite stehen tiefgläubige Impfgegner, die mit heiligem Zorn ihrem Verschwörungsglauben anhängen.

In der Antirassismustheorie, das legt John McWhorter in seinem Buch „Die Auserwählten“ überzeugend dar, sind die alten religiösen Bausteine wieder komplett, nur neu konstruiert. Es gibt Gut und Böse, die Erbsünde ist zurück – nun trägt sie weiße Haut, der Kolonialismus hat die Menschheit aus dem Paradies vertrieben. Aber die Erlösung ist nah, wenn man den Priestern des Woken glaubt. Als Erleuchtete missionieren sie allüberall die Gesellschaft. Selbstgeißelung ist wieder en vogue. Wer widerspricht, ist ein Ketzer und darf niedergemacht werden; er verliert nicht seinen Kopf, aber Job und Ehre. Leider ist auch das Woke eine Religion, die weit hinter die Aufklärung zurückfällt.

Das Christentum kennt eben nicht nur den Glauben, sondern auch den Zweifel. Die neuen Religionen kommen praktischerweise ohne jeden Zweifel aus.