Hamburg. Vor der Zwischenrunde nächste Woche am Rothenbaum denkt der ehemalige Tennisprofi an das Turnier im Jahr 1994 zurück.

Es hätte ein Meilenstein seiner Karriere werden können; einer jener Momente, an die man sich auch viele Jahre später noch mit einem Anflug von Gänsehaut erinnert. Wenn Michael Stich allerdings über das letzte Septemberwochenende des Jahres 1994 spricht, ist von wohliger Nostalgie wenig zu spüren. Das Daviscup-Halbfinale gegen Russland (1:4), das für den Hamburger an seinem geliebten Rothenbaum zum triumphalen Heimspiel hatte werden sollen, entpuppte sich als Horrorshow unerwarteten Ausmaßes.

Michael Stich wurde von anonymem Anrufer bedroht

Die Hauptschuld daran trug ein anonymer Anrufer, der am Tag vor Stichs erstem Einzelmatch gegen Alexander Wolkow ins Hotelzimmer des damals 25-Jährigen durchgestellt wurde. Der Mann drohte dem deutschen Spitzenspieler damit, ihn am nächsten Tag ermorden zu wollen. „Es war das erste und zum Glück einzige Mal in meinem Leben, dass mir so etwas passiert ist. Ich konnte damit überhaupt nicht umgehen, es hat mich emotional sehr angefasst“, sagt der heute 53-Jährige.

Besonders perfide erschien ihm die Drohung damals vor dem Hintergrund, dass ein gutes Jahr zuvor der geistig verwirrte Steffi-Graf-Fan Günter Parche die jugoslawische Spitzenspielerin Monica Seles auf dem Center-Court am Rothenbaum mit einem Messerstich am Rücken verletzt hatte. „Anfangs dachte ich, ich könnte so etwas einfach wegschieben. Aber das gelang mir nicht. Ich habe mich ständig umgeschaut und konnte mich überhaupt nicht mehr auf mein Tennis fokussieren“, sagt er.

Der Deutsche Tennis-Bund (DTB) hatte zwar für polizeiliche Sonderbewachung gesorgt, es allerdings versäumt, Stich davon zu unterrichten. So blieb große Unsicherheit, die darin gipfelte, dass der emotional aufgewühlte Teamanführer sogar seine Zukunft im Daviscup infrage stellte. „Im Nachhinein wäre es wohl besser gewesen, ich wäre nicht angetreten“, sagt er rückblickend.

Michael Stich wollte sein Team nicht im Stich lassen

Weil der Wimbledonsieger von 1991 aber schon seit seiner Daviscup-Premiere 1990 im Erstrundenduell mit den Niederlanden in Bremen für den traditionsreichsten Teamwettkampf der Sportwelt brannte, wollte er seine Mannschaft nicht im Stich lassen. An sein erstes Einzel gegen Wolkow kann er sich jedoch nicht einmal mehr schemenhaft erinnern. „Ich hätte ohne Nachhelfen nicht einmal mehr gewusst, dass ich gegen Wolkow verloren habe“, sagt er. Tat er aber, mit 5:7, 6:1, 6:7 (5:7), 4:6 – was nach der Viersatz-Niederlage des Münchners Bernd Karbacher (54) gegen Jewgeni Kafelnikow zum Auftakt einen 0:2-Rückstand bedeutete.

Vollkommen skurril wurde es, als sich am Abend des Eröffnungstages der anonyme Anrufer noch einmal bei Stich meldete, als Boris-Becker-Fan outete und die gesamte Aktion zu einem Scherz erklärte. „Er hat um Entschuldigung gebeten, aber das hat auch nichts mehr genutzt. Für mich war das Wochenende gelaufen“, sagt Michael Stich. Das war auf dem Platz zu sehen. An der Seite von Karsten Braasch (55/Marl) unterlag er im Doppel gegen Kafelnikow und Andrej Olchowski mit 4:6, 6:7 (1:7), 6:3, 7:6 (7:3), 8:10 und verlor am Sonntag das bedeutungslos gewordene dritte Einzel gegen Kafelnikow 5:7, 3:6.

„Mir tat das besonders für das Hamburger Publikum leid, das mich immer unglaublich unterstützte und auch trotz der Niederlagen zu uns hielt“, sagt Michael Stich. Er selbst habe sein einziges Daviscup-Heimspiel schon vor dem ominösen Anruf nicht genießen können, weil die Entscheidung, die Russen in Hamburg unter freiem Himmel – das Dach über dem Center-Court wurde erst 1997 in Betrieb genommen – auf Hartplatz zu empfangen, für ihn nicht nachvollziehbar gewesen sei. „Historisch passte das für mich nicht an den Rothenbaum. Wir hatten im Daviscup noch nie draußen auf Hartplatz gespielt, und für mich war Hamburg immer mit Sand als Belag verbunden“, sagt er.

Daviscup-Sieg 1993 bedeutet Stich bis heute viel

Michael Stich, der von 2009 bis 2018 zehn Jahre als Turnierdirektor das Herrenevent am Rothenbaum vor dem Aus bewahrte, ist grundsätzlich kein Mensch, der in der Vergangenheit lebt. Dass sein einziges echtes Daviscup-Heimspiel so wenig Anlass zur Freude bot, hat er längst abgehakt. Er tröstet sich mit den Erinnerungen an den Titelgewinn 1993, als er zum 4:1-Finalsieg über Australien in Düsseldorf zwei Einzelsiege und den Triumph im Doppel an der Seite von Patrik Kühnen (56/Püttlingen) beitragen konnte. „Das ist ein Erlebnis, das heraussticht“, sagt er, „es war immer eins meiner großen Ziele, den Daviscup zu gewinnen.“ Weniger präsent als von vielen erwartet seien dagegen die Bilder vom Halbfinale 1995 in Moskau, als Stich gegen Andrej Tschesnokow im Entscheidungseinzel neun Matchbälle vergab und das Match noch verlor. „Das war einer dieser Momente, von denen man denkt, dass sie einem nie passieren. Aber es tat mir für das Team viel mehr leid als für mich persönlich“, sagt er.

Einen Besuch am Rothenbaum in der kommenden Woche, um seinen Nachfolgern zuzuschauen, plant Michael Stich nicht. Das neue Format des Daviscups hat in seinen Augen mit den Wurzeln des Wettbewerbs nicht mehr viel zu tun. Dennoch wünsche er der deutschen Mannschaft größtmöglichen Erfolg – und schönere Erinnerungen an den Daviscup am Rothenbaum, als sie ihm geblieben sind.

Die deutschen Tennisherren spielen in der Zwischenrunde am 14. September gegen Frankreich, am 16. September gegen Belgien und am 18. September (jeweils 14 Uhr) gegen Australien. Tickets gibt es in allen Kategorien über die Hotline 01806 – 570077, an allen Eventim-Vorverkaufsstellen sowie im Internet unter daviscupfinals.com. Servus TV überträgt alle Spiele der Deutschen live und frei empfangbar, im kostenpflichtigen Stream zeigt auch DAZN alle Partien.