Hamburg. Ein Humangenetiker und ein Medienwissenschaftler sprechen über unser kulturelles und biologisches Erbe.

Der Mensch hinterlässt Spuren. Überall. Manche sind klein und unscheinbar: Etwa 100 Kopfhaare verlieren wir pro Tag und sogar viele Millionen Hautzellen, die zusammengeklumpt zu Staub werden. Fingerabdrücke von uns können jahrelang auf Papier oder Plastik überdauern. Doch weder nimmt von diesen biologischen Hinterlassenschaften jemand Notiz, noch entfalten sie eine nennenswerte Wirkung.

Einfluss des Erbgutes

Einen ungleich größeren Einfluss hat unser Erbgut, das über Zehntausende Jahre hinweg von Menschen weitergegeben werden kann, wie Humangenetiker Christian Kubisch erklärt. Allerdings verstehen wir erst unvollständig, wofür die Erbanlagen im Einzelnen stehen, also was genau an Informationen erhalten geblieben ist.

Vom menschlichen Wirken in der jüngeren Geschichte erzählen können Bücher und Briefe, Fotos, Filme und Videos. Doch dieses Material droht in Vergessenheit zu geraten und zu verschwinden, warnt der Medienwissenschaftler Thomas Weber. Sein Appell: Wir müssen dringend unsere Archivpolitik verbessern.

Schon vor Jahrtausenden haben Herrscher sich Denkmäler gesetzt und ihre Gesichter auf Münzen verewigt. Auch heute dürfte viele Menschen der Wunsch umtreiben, etwas Bleibendes zu hinterlassen. Woher kommt dieser Wunsch, sich zu verewigen?

Thomas Weber: Die damaligen Motive werden wir nicht restlos aufklären können. In vielen Fällen handelte es sich wohl um religiös motivierte Rituale. Nehmen wir etwa Bestattungsrituale der alten Ägypter: Dabei ging es um ein Nachleben im Jenseits. Heute spielen die Tradierungen zwar auch eine Rolle, aber – um einen Sprung zu machen – in sozialen Netzwerken wie Facebook geht es wohl eher um Selbstrepräsentation als um den Wunsch, ein Stück von sich über Jahrzehnte oder gar Jahrtausende zu bewahren. Im Mittelpunkt bei Facebook stehen Fragen der eigenen Identität. Wer hier etwas tradiert, verhandelt damit vor allem das, was er in der Gegenwart ist. Es geht um vergleichsweise kurze Zeiträume.

Durch das Internet und soziale Netzwerke ist es heute vergleichsweise leicht, persönliche Geschichten und Botschaften zu veröffentlichen und zumindest potenziell vielen Menschen zugänglich zu machen, die solche Informationen dann teilen, also weiterverbreiten können. Wird das nicht dazu führen, dass künftig von vielen Menschen vieles bleibt?

Weber: Was sich im Internet bewahren lässt, wissen wir schlicht nicht. Es gibt derzeit keine systematische Archivpolitik im Netz. Das Internet ist ein lebendiges Archiv. Nur das, was sich dort finden lässt – egal, ob es schon vor Jahren publiziert wurde oder vor wenigen Minuten –, ist den Zeitgenossen zugänglich. Größere Sorgen bereitet mir aktuell allerdings etwas anderes.

Desaströse Archivlage

Nämlich?

Weber: Viele analoge Quellen, die das 20. Jahrhundert dokumentieren, etwa Videos, Tonbänder und Kassetten, sind in Gefahr. Die Archivlage ist desaströs in diesem Bereich, gerade in Deutschland. Das Material löst sich langsam auf. Videokassetten halten kaum länger als 20 bis 25 Jahre. Sind erst einmal die Bänder verklebt, ist die Aufnahme auch mit viel Geld nicht mehr zu retten. Gerade Videos haben aber die Entwicklung des demokratischen Deutschland seit Ende der 1960er-Jahre geprägt: Frauenemanzipation, Anti-Atomkraft-, Friedens- oder Umweltbewegungen, um nur einige zu nennen, wurden auch dank der mit Video arbeitenden Medienaktivisten bekannt, die bis heute unsere Vorstellung von diesen zivilgesellschaftlichen Aufbrüchen prägen. Aber als Quellen drohen sie zu verschwinden. Wir sind heute in der merkwürdigen Situation, dass die Archive der großen deutschen Diktaturen, der NS-Zeit und der DDR-Zeit, wesentlich besser erhalten sind als die Archive des demokratischen Deutschland.

Wie verhält es sich mit Büchern und Zeitungen? Gilt noch der alte Spruch: Wer schreibt, der bleibt?

Weber: Bei Quellen aus Papier ist die Archivquote erheblich höher als bei audiovisuellen Medien. Zwar gibt es politische Anstrengungen, diese Situation zu verbessern, sie sind aber erkennbar um Dimensionen zu gering. Aktuell gilt noch immer: Wer einen Roman schreibt, hat größere Chancen, auch noch in 100 Jahren gelesen oder überhaupt wahrgenommen zu werden als jemand, der ein Video dreht. Zudem hat der Schreiber heutzutage das Glück, seine Werke höchstwahrscheinlich auf säurefreiem Papier veröffentlichen zu können, was deutlich beständiger ist als Papier, das zwischen 1880 und 1980 bedruckt wurde. Gerade mit Blick auf audiovisuelle Medien müssen wir die Archivierung verbessern. Sonst bleibt nur das übrig, was mehr oder weniger zufällig auf Internetseiten wie YouTube oder Vimeo überdauert.

Christian Kubisch: Das wäre ein Pro­blem. Das würde bedeuten, dass wir einen Teil unseres Kulturerbes internationalen Konzernen überlassen. Keine Sorgen machen müssen wir uns dagegen um die Weitergabe unseres biologischen Erbes.

Was geschieht damit?

Kubisch: Biologisch hat sich nichts geändert vom Höhlenmenschen bis zu uns. Wir geben die Hälfte unserer Erbinformationen an unsere Nachkommen weiter. In der nächsten Generation bleiben dann 25 Prozent von einem Großelternteil, dann 12,5 Prozent und so weiter. Die Anzahl der Gene verändert sich dabei allerdings nicht, es geht um die unterschiedlichen Varianten bestimmter Gene, die die künftigen Generationen von uns übernehmen.

Das bedeutet allerdings, dass über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg immer weniger vom Erbgut eines einzelnen Menschen erhalten bleiben wird …

Kubisch: Im Prinzip, ja. Aber das humane Genom ist sehr groß. Jeder von uns verfügt über genetisches Material in Form von mehr als drei Milliarden Basenpaaren in jeder Körperzelle. Zwar wird von Generation zu Generation immer weniger individuelle Erbinformation weitergegeben. Aber noch heute lässt sich zum Beispiel nachweisen, das etwa ein bis zwei Prozent der DNA bei Europäern und Asiaten vom Neandertaler stammen, wie Forscher durch die Analyse von 50.000 Jahre alten Neandertaler-Knochen festgestellt haben. Das heißt, bezogen auf unsere Nachkommen könnte in einigen Zehntausenden Jahren auch noch etwas von uns übrig sein.

Dass wir Kinder zeugen, ist das auch ein narzisstischer Akt, damit etwas von uns bleibt?

Kubisch: Es ist ein natürliches Bedürfnis, sich fortzupflanzen. Ob in einem größeren Kontext die Erhaltung der Spezies ein Antrieb ist – das ist wahrscheinlich anzunehmen. Allerdings ist das nichts Menschenspezifisches, sondern es gilt für jede Spezies.

Weber: Wenn ich an dieser Stelle nachhaken darf: Stehen wir jetzt nicht an einer Schwelle, wo wir – ethische Aspekte einmal ausgeklammert – eine Entwicklungsstufe erreicht haben, in der wir in genetisches Design einsteigen können, also beeinflussen, was genetisch an unsere Nachkommen weitergegeben wird und damit von uns bleibt?

Kubisch: Genetiker können das menschliche Erbgut heute zwar auslesen. Was die genetischen Informationen bedeuten, für welche Ausprägungen bestimmter Merkmale sie stehen, das verstehen wir aber erst unvollständig. Wir können inzwischen schon für viele erblich bedingte Erkrankungen individuelle Risiken für Menschen benennen. Ein Beispiel sind bestimmte Mutationen, die ein höheres Risiko für Brustkrebs bedeuten und an Nachkommen vererbt werden können. Sehr viel geringer ist unser Wissen über die genetischen Grundlagen allgemeiner menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften. Ob wir uns neue Erkenntnisse darüber zunutze machen können, ist eine schwierige Frage. Der „optimierte Mensch“ – ob das überhaupt ein Konzept ist, das sich biologisch umsetzen lässt, darüber wissen wir noch sehr wenig.

Tausende genetische Faktoren

Angenommen, jemand wollte genetische Informationen manipulieren und er hätte die Technik dazu …

Kubisch: … dann müsste er erst einmal feststellen, welche Eigenschaft denn im Wesentlichen genetisch bestimmt ist. Es entsteht heute in der Öffentlichkeit teilweise der Eindruck, als ob viele Eigenschaften sehr stark unter genetischer Kontrolle stünden. Unterschätzt wird der mögliche Einfluss der Umwelt, der die Ausprägung von Genen verändern kann. Für ein Merkmal wie Intelligenz spielen womöglich Tausende genetische Faktoren eine Rolle, die sich auch verändern können. Was davon künftig erhalten bleibt und ob wir das beeinflussen können, ist völlig offen.

Einige Menschen lassen sich nach ihrem Tod einfrieren, darauf hoffend, sie könnten durch den medizinischen Fortschritt irgendwann wiederbelebt werden. Was halten Sie von dieser Kryostase?

Kubisch: Das ist weit entfernt von meinem Fachgebiet. Hinter diesen Vorhaben steht ja offenbar der Wunsch nach Unsterblichkeit. Es ist nur so: Wenn Menschen altern, kommt es im Körper zu vielen Veränderungen, die zumindest aktuell als nicht reversibel erscheinen. Selbst wenn es gelänge, einen eingefrorenen Menschen wiederzubeleben, was aktuell unrealistisch ist, müsste man ja das Altern stoppen, um zu vermeiden, dass der Mensch bald wieder stirbt. Ich halte das für eine Utopie, die sich nicht realisieren lässt. Altern und Sterben gehören zum Menschsein dazu. Ein längeres gesundes Leben als bisher sollte aber möglich sein.

Das sind die Experten:

Christian Kubisch ist Professor für Humangenetik und als Direktor des Instituts für Humangenetik am Uniklinikum Eppendorf (UKE) tätig. Nach dem Studium der Humanmedizin in Bonn war er von 1995 bis 1999 bereits als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zen­trums für Molekulare Neurobiologie in Hamburg beschäftigt, bevor er mit Stationen an humangenetischen Instituten in Bonn, Köln und Ulm im Jahr 2014 wieder in die Hansestadt zurückkehrte. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt in der Untersuchung und Aufklärung der erblichen Ursachen von zum Beispiel neurologischen Krankheiten und Erkrankungen mit vorzeitigen Alterungssymptomen.

Thomas Weber ist seit 2011 Professor für Medienwissenschaft am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg. Zuvor war er als Lektor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Paris, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität in Berlin und an der Universität Bonn tätig. Seit 2012 leitet er verschiedene Projekte zur Geschichte und Theorie des Dokumentarfilms und war Mitglied des Graduiertenkollegs „Vergegenwärtigungen der Shoah“ an der Universität Hamburg