Hamburg. Michael Vesper, Vorstandschef des Deutschen Olympischen Komitees, über die fehlgeschlagene Bewerbung und neue Sportveranstaltungen.

Wenn er in Fuhlsbüttel aus dem Flugzeug steigt, kommen die Erinnerungen. Michael Vesper denkt dann zurück an den 30. November 2015, den Tag nach dem gescheiterten Referendum zu Hamburgs Bewerbung um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2024. „Damals bin ich sehr niedergeschlagen aus Hamburg abgereist“, sagt der 65-Jährige, der zum Jahresende nach dann gut elf Jahren sein Amt als Vorstandsvorsitzender des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) an Veronika Rücker, Leiterin der DOSB-Führungsakademie in Köln, übergibt.

Herr Vesper, was geht Ihnen als Erstes durch den Kopf, wenn Sie an die Phase der Hamburger Bewerbung zurückdenken?

Michael Vesper: Oh, da gibt es viele Momente. Das reicht von Sitzungen mit Bürgermeister Olaf Scholz über Aktionen auf dem Kleinen Grasbrook bis hin zu Debatten mit den Olympiagegnern, bei denen ich meine Stimme eingebüßt habe, weil es so heiß herging. Überwiegend sind es sehr angenehme Erinnerungen, dann allerdings überlagert von dem traurigen Moment, als das knapp negative Ergebnis des Referendums da war.

Wenn im kommenden Monat in Lima mit Paris und Los Angeles die Gastgeber für 2024 und 2028 offiziell vom Internationalen Olympischen Komitee gekürt werden, dürfte dennoch Wehmut aufkommen.

Viel konkreter ist diese Wehmut, wenn im kommenden Februar Pyeongchang Gastgeber der Winterspiele 2018 ist, und ich daran denken werde, dass diese Spiele statt in Südkorea auch in München hätten stattfinden können. Der Unterschied ist, dass wir damals ein Referendum in Garmisch-Partenkirchen gewonnen und erst beim IOC verloren haben. In Hamburg kam das Aus leider schon beim Bürgerentscheid.

Sehr gute Chancen gehabt

Angesichts der Terroranschläge, die Paris erlitten hat, und der politischen Lage in den USA: Hätte Hamburg in Lima nicht eine große Chance gehabt?

Eindeutig ja, auch unabhängig von den politischen Rahmenbedingungen. Das habe ich schon gesagt, als die Mitbewerber Boston, Budapest und Rom noch im Rennen waren. Hamburg mit seinem kompakten und nachhaltigen Konzept in einer mittelgroßen Metropole hätte beim IOC sehr gute Chancen gehabt.

Auch noch nach dem G20-Chaos?

Der G20-Gipfel ist ja, während die Bewerbung noch aktuell war, nach Hamburg vergeben worden – auch als Unterstützung: Er sollte die Stadt weltweit bekannter machen. Das ist nun zwar gelungen, allerdings ganz anders als gedacht – und das hätte auch der Bewerbung geschadet. Aber man darf natürlich einen derart emotional aufgeladenen politischen Gipfel nicht mit einem großen Sportfest vergleichen. Ich bin überzeugt, dass die Hamburger den olympischen Gästen einen sehr herzlichen Empfang bereitet und begeisterten Anteil an den Spielen genommen hätten.

Für den Spitzensport geöffnet

Über mögliche Gründe für das negative Referendum ist genug spekuliert worden. Was hat Hamburg daraus gelernt, was hat die Bewerbungsphase bewirkt?

Die Stadt hat sich dem Spitzensport stärker geöffnet als zuvor. Das zeigt auch aktuell die Box-WM. Und mein Eindruck ist, dass der Hamburger Sport insgesamt nach der verständlichen Enttäuschung über das Scheitern neue Kraft geschöpft hat und die Verantwortlichen mit dem Masterplan Active City und dem Ausbau bestehender Topsport-Veranstaltungen ein klares Konzept verfolgen. Ich finde es gut, dass nicht mehr hinterhergetrauert, sondern versucht wird, das Positive voranzutreiben.

In der Region Rhein-Ruhr, die Sie als gebürtiger Kölner und aus Ihrer Zeit als Politiker bestens kennen, reifen bereits Pläne für eine neue deutsche Bewerbung, möglicherweise für 2032. Wie stehen Sie dem gegenüber?

Es ist zu früh, heute schon über eine konkrete Bewerbung zu reden. Damit weckt man nur falsche Hoffnungen, Erwartungen und Befürchtungen. Natürlich sind Olympische Spiele Teil der DNA des DOSB, und in der Tat wäre Deutschland nach dann 60 Jahren seit München 1972 einmal wieder dran, die Spiele auszurichten. Aber das wird zu gegebener Zeit entschieden, und bis dahin hat das IOC seine begonnenen Reformen längst vollständig umgesetzt. Und die Verantwortlichen haben dann ja genügend Stoff, um aus den gescheiterten Bewerbungen zu lernen und Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.

DOSB-Vorstandschef Michael Vesper war zeitweise Minister in Nordrhein-Westfalen.
DOSB-Vorstandschef Michael Vesper war zeitweise Minister in Nordrhein-Westfalen. © dpa

Das Beispiel Windkraft

Damit spielen Sie auf das Referendum an. Ist es Ihrer Meinung nach sinnvoll, das Volk in solch richtungweisenden Prozessen entscheiden zu lassen?

Es ist absolut notwendig, die Bevölkerung so früh wie möglich in alle Themen einzubinden, ihre Meinung zu hören und zu respektieren, und das haben wir in Hamburg wie vorher in München auch getan. Für diskussionswürdig halte ich es aber, wenn über ein nationales Projekt – und das ist eine Olympiabewerbung – allein auf lokaler Ebene entschieden wird. Nehmen Sie das Beispiel Windkraft. Wenn Sie darüber in Deutschland grundsätzlich abstimmen lassen, bekommen Sie weitgehend Zustimmung. Fragen Sie aber dort, wo eine Windkraftanlage gebaut werden soll, werden Sie sehr häufig Ablehnung ernten. Wir haben demokratisch gewählte Parlamente, die das Volk vertreten. Es geht um das Verhältnis von direkter und repräsentativer Demokratie.

Das IOC setzt bei der Änderung des Bewerbungsprozesses vor allem auf Nachhaltigkeit und Kompaktheit. Hat da eine große Flächenregion wie Rhein-Ruhr überhaupt eine Chance?

Ich habe vor 15 Jahren als damaliger Sportminister selbst für die Region geworben und finde sie hinreißend. Aber die beiden Ziele Kompaktheit und Nachhaltigkeit, also vor allem durch Nutzung bestehender Anlagen, können sich widersprechen. Deshalb hat das IOC klargemacht, dass Nachhaltigkeit über der Kompaktheit steht, was auch die nun vorgelegten Konzepte von Paris und Los Angeles beweisen. In Hamburg war beides erfüllt, aber das ist Vergangenheit.

Halten Sie die Entscheidung des IOC, die Spiele 2024 und 2028 gleichzeitig zu vergeben, für klug? Oder ist sie eine Verzweiflungstat, weil man Angst haben muss, dass sich bald niemand mehr bewirbt?

Wenn man die nächsten beiden Spiele in Paris und Los Angeles ausrichten kann, besteht für Verzweiflung nun kein Grund. Ich halte das Vorgehen des IOC für sehr klug, denn zwei bessere Gastgeberstädte sind kaum denkbar. Außerdem gefällt mir der Ansatz, keine Verlierer mehr produzieren zu wollen, sondern die Städte zu finden, die Olympia wollen und können.

Nachhaltigkeit braucht Zeit

Das dachte man 2009 auch von Rio de Janeiro. Sieben Jahre später versank Brasilien, bei der Vergabe noch ein boomendes Schwellenland, im Chaos. Ein Jahr nach den Spielen scheinen nur die Schulden nachhaltig zu sein.

Richtig ist, dass Brasilien und Rio aktuell große Probleme haben, die freilich wenig mit den Olympischen Spielen zu tun haben. Niemand konnte das 2009 absehen. Aber Nachhaltigkeit braucht auch Zeit. In London war der Olympiapark nach den Spielen 2012 mehr als ein Jahr lang gesperrt, ehe die Öffentlichkeit Zugang bekam. Lassen Sie uns über das Erbe der Rio-Spiele in ein paar Jahren sprechen, wenn die Situation des Landes sich hoffentlich wieder verbessert hat. Schon heute gibt es durchaus positive Effekte: So hat Rio durch die Spiele ein neues Nahverkehrssystem bekommen, der Stadtteil Barra wurde aufgewertet.

Was tatsächlich auffällt: In den westlichen Nationen, besonders aber in Deutschland, ist der moralische Anspruch an Olympische Spiele immens hoch. Wird der Sport mit Erwartungen bisweilen überfrachtet?

Ja, das ist so. Der Sport kann all die Ansprüche, die an ihn gestellt werden, gar nicht erfüllen. Vor Peking 2008 sollte er, überspitzt gesagt, Tibet befreien, vor Sotschi 2014 die Homophobie in Russland abstellen. Sport ist politisch, keine Frage, und er muss sich auch gesellschaftlichen Herausforderungen stellen. Aber er kann nicht die Probleme lösen, die selbst die wichtigsten Politiker der Welt nicht in den Griff bekommen.

Messen wir in westlichen Demokratien zu oft mit zweierlei Maß? Man könnte ja auch die Vergabe an Los Angeles kritisieren, weil es in den USA noch die Todesstrafe gibt.

Natürlich muss die Beachtung der Menschenrechte bei Vergabeentscheidungen eine stärkere Rolle spielen. Aber man kann große Sportveranstaltungen nicht nur in westlich geprägte Demokratien legen, dann wäre der Kreis möglicher Bewerber sehr klein. Der Sport ist genauso global wie die Uno, und die Welt lässt sich nicht von heute auf morgen nach unseren Vorstellungen verändern. Boykotte helfen nicht, sie vertiefen Gräben, statt Probleme lösbarer zu machen. Der Sport kann dazu beitragen, ein friedliches Miteinander zu fördern.

Weltweit gültige Regeln

Ist Leistungssport nicht viel zu lukrativ, als dass solche hehren Ideale noch zählten? Beim Umgang mit dem Thema Doping ist das deutlich zu besichtigen. Deutschland will dort Vorreiter sein, aber immer öfter beklagen deutsche Athleten zu geringe Chancengleichheit, weil in anderen Ländern längst nicht so viel kontrolliert wird. Wie löst man solche Konflikte?

Sicherlich nicht, indem wir nachlässiger werden. Es gibt weltweit gültige Regeln, und wenn sich jede Nation daran hält, ist Chancengleichheit möglich. Dazu muss man die Welt-Anti-Doping-Agentur stärken. Das IOC hat nach den Enthüllungen des McLaren-Reports vieles in diese Richtung angeschoben.

Ungleichheit herrscht auch bei der finanziellen Ausstattung. Während in vielen Ländern Olympiasieger ausgesorgt haben, muss in Deutschland ein Goldmedaillengewinner oft schon während der Karriere zweigleisig fahren, um über die Runden zu kommen. Verstehen Sie, dass dadurch Frust entsteht ?

Selbstverständlich. Darum ist es ja so wichtig, ihnen eine zweite Karriere nach dem Sport zu ermöglichen. Wenn zwischen Sport und Ausbildung bzw. Beruf ein „oder“ steht statt ein „und“, verlieren wir unsere besten Talente. Denn kaum einer unserer Spitzenathleten kann von seinem Sport leben, geschweige denn für die Zeit danach vorsorgen. Die duale Karriere ist ein Schlüsselthema für erfolgreichen Leistungssport. Unter anderem deshalb haben wir vor drei Jahren die Leistungssportreform angeschoben, damit wir in Zukunft noch zielgerichteter fördern können. Es geht um eine breite Basis für den Sport, es geht darum, die Entwicklung vom Schulsport bis in die Vereine zu optimieren.

An der Reform gibt es viel Kritik. Pauschal heißt es, der DOSB wolle mehr Erfolg mit weniger Geld. Ist diese Verkürzung zulässig?

Nein, sie ist auch sachlich falsch. Der DOSB hat seine Hausaufgaben gemacht und mit dem Bundesinnenministerium ein neues Förderkonzept erarbeitet und beschlossen, bei dem die Athleten und Trainer im Mittelpunkt stehen. Zu dessen Umsetzung brauchen unsere Verbände mehr Geld, das sieht auch der zuständige Minister Thomas de Maizière so. Wir wollen erfolgreicher werden – auch dadurch, dass wir Sportarten mit hohem Erfolgspotenzial besser fördern als bislang. Dazu muss der neue Bundestag die Mittel substanziell erhöhen.

Oft geht es den Athleten gar nicht vorrangig um Geld, sondern einfach um Anerkennung für das, was sie leisten.

Es ist absolut nachvollziehbar, dass viele Athleten sich mehr Interesse und mehr Wertschätzung wünschen, das ist eine große Baustelle. Natürlich stimmt es mich traurig, wenn eine Schwimm-WM nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt wird. Im Juli war ich bei den World Games in Polen, den Weltspielen der nichtolympischen Sportarten. Die wurden von Sport1 übertragen, aber darüber hinaus gab es kaum Berichterstattung in Deutschland. Abseits der breiten öffentlichen Wahrnehmung wurden hier großartige Leistungen vollbracht.

Dennoch läuft etwas falsch, wenn das ZDF die Übertragung von der Leichtathletik-WM abbricht, um den bedeutungslosen Fußball-Supercup zwischen Manchester United und Real Madrid zu zeigen, oder?

Die traurige Wahrheit ist, dass dieses Spiel beim Publikum offenbar mehr Interesse hervorruft als die WM in einer olympischen Kernsportart. Dabei kann es nicht darum gehen, den Fußball zu verdammen – er ist unser Volkssport Nummer eins und zugleich Teil der Sportfamilie.

Fußball an erster Stelle

Ist das Problem in Deutschland also, dass der Sportfan nur noch die Monokultur Fußball wünscht und sich für andere Sportarten nur noch am Rande interessiert?

Nein. Natürlich steht für viele Sportfans der Fußball an erster Stelle, aber eben nicht nur. Ich habe kürzlich bei der Fecht-WM in Leipzig wieder einmal feststellen können, dass es in Deutschland auch für weniger im medialen Zen­trum stehende Sportarten ein begeisterungsfähiges, sehr fachkundiges und wertschätzendes Publikum gibt.

Also sind die Verbände schuld, weil sie es nicht schaffen, ihren Sport fürs Fernsehen interessant zu machen?

Ich begrüße, dass viele Verbände darüber nachdenken, wie sie ihre Formate anpassen können, um interessanter zu werden, ohne dabei den Kern ihres Sports zu verändern. Ringen ist ein gutes Beispiel. Erst nachdem das Aus für Olympia drohte, hat sich der Weltverband zu dringend nötigen Reformen durchringen können. Der Wintersport hat es vorgemacht, wie man es mit der Gestaltung von Wettkämpfen und einer Flexibilisierung der Terminkalender schafft, ausführlich ins öffentlich-rechtliche Fernsehen zu kommen. Die Sommersportarten müssen das auch versuchen. Aktuell gibt es Planungen, deutsche Meisterschaften gesammelt an einem Wochenende durchzuführen. Das ist das richtige Mittel.

Zum Jahresende verlassen Sie den DOSB und haben dann keine Gelegenheit mehr, den Sport in Deutschland mitzugestalten. Wird die Leistungssportreform Ihr Vermächtnis?

Nein – schon deswegen, weil ich für ein Vermächtnis zu jung bin. Vor allem ist die Reform ein Werk von ganz vielen, „work in progress“, das den DOSB noch lange beschäftigen wird. Genauso wichtig war unser Anfangsprojekt, nämlich das Nationale Olympische Komitee und den Deutschen Sportbund zum DOSB zusammenzuführen. Es ist ein absolutes Privileg, mit dem Sport so eng auf Tuchfühlung zu sein. Den Wechsel aus der Politik habe ich keine Sekunde bereut.

Was unterscheidet Sport und Politik?

Dass man im Sport nie weiß, wie es ausgeht. Hier gibt es Überraschungen und Entscheidungen, die unplanbar sind. Es gibt aber auch Parallelen. Auch im Sport braucht man, um Dinge umzusetzen, Mehrheiten, um die man kämpfen muss.

Wofür kämpfen Sie ab Januar 2018?

Nach einer so intensiven Lebensphase ist es gut, sich nicht gleich in das nächste große Abenteuer zu stürzen. Ich lasse, was die Zukunft bringt, einfach mal auf mich zukommen.