Hamburg. Ein kleiner Artikel aus dem Abendblatt über Hamm wurde zu einem großen Aufreger unter den neurechten Trump-Freunden in den USA. Die Geschichte zeigt auch, dass der Wahnsinn im Internet Methode hat

Das Beste am Internet, könnte man mit einem Hauch Sarkasmus behaupten, ist die Möglichkeit, traditionsreiche Spiele in digitaler Form neu zu beleben. Nehmen wir zum Beispiel das gute alte „Stille Post“. Nirgends lässt es sich so schnell und mit so vielen Menschen gleichzeitig spielen wie im Netz der grenzenlosen Möglichkeiten. Irgendjemand hört oder liest eine seriöse Nachricht und versteht etwas falsch. Der Nächste lässt beim Weiter-Posten etwas weg, dann fügt jemand in seinem Blog eine Klitzekleinigkeit hinzu, setzt (in der Netzversion) ein dramatisches Foto daneben oder fasst die Nachricht bei Twitter für seine 500.000 Follower sehr grob zusammen – und schon ist aus einer kleinen wahren Nachricht ein weltweiter (unwahrer) Aufreger geworden.

Das Internet ist längst das perfekte Medium für hysterische Überspitzungen, Verdrehungen und Nachrichten(ver)fälschungen, neudeutsch: „Fake News“.

„Ist das Internet kaputt?“

Bei der großen Berliner Internet-Konferenz re:publica ließ sich wegen dieser Entwicklung kürzlich wieder beobachten, dass selbst manche der einst so optimistischen Gurus der Netzbewegung ihren guten Glauben daran verloren haben, dass aus dem Internet eine bessere Welt erwachsen könnte – voller Bildung, Aufklärung, Solidarität und Erleichterungen für die Mühen des menschlichen Daseins.

Angesichts von immer mehr durch das Internet vermittelter Ausbeutung, von Hasspostings und Morddrohungen gegen demokratisch gewählte Politiker, dem unkontrollierten Grassieren absurd-gefährlicher Verschwörungstheorien und dem auch aus dem Netz gespeisten Wahlsieg eines Mannes wie Donald Trump in den USA fragten sie sich bei der re:publica wieder einmal: „Ist das Internet kaputt?“

Aus der Mücke wird eine Ente gemacht

Wie das Netz aus dem Flügelschlag eines heimischen Schmetterlings einen neumedialen Hurrikan am anderen Ende der Welt machen kann, lässt sich dieser Tage sehr gut nachvollziehen – anhand eines kleinen Artikels aus dem Hamburger Abendblatt vom 2. Mai. Der „FAZ“-Blogger Don Alphonso hat an diesem Beispiel jetzt einmal genau nachgezeichnet, wie politisch interessierte Gruppen und Blogs dieser Tage ganz schnell aus einer Mücke eine Ente machen – und wie eine Hamburger Nachricht von der neurechten Trump-Gemeinde zum Propaganda-Instrument umgedrechselt wurde.

In dem Artikel mit der Überschrift „Bezirk Mitte führt erstmals Zwangsvermietung durch“ hatte das Abendblatt vor zwei Wochen über einen Fall berichtet, in dem ein Bezirk erstmals die Instrumente des 2013 verschärften Hamburger Wohnraumschutzgesetzes nutzte. Das Bezirksamt Mitte entzog einem Eigentümer in Hamburg-Hamm sechs seit Langem leer stehende Wohnungen. Sie werden nun auf Kosten des Eigentümers durch einen Treuhänder saniert und vermietet und ihm danach wieder übergeben. Das aufgrund der Wohnungsnot bereits zwei Jahre vor dem Flüchtlingszustrom beschlossene Gesetz erlaubt solche Maßnahmen, wenn Wohnungen mehr als vier Monate leer stehen und die Eigentümer auf Abmahnungen und Strafandrohungen nicht reagieren.

Das Haus Ohlendorffstraße 15 in Hamm.
Das Haus Ohlendorffstraße 15 in Hamm. © HA | Klaus Bodig

Eines ist sicher: Schuld ist das „Merkelregime“

Drei Tage nach dem Erscheinen des nicht sonderlich groß im Abendblatt präsentierten Artikels nahm sich die neurechte deutsche Internetseite PI-News der Geschichte an. Die bei AfD-Anhängern beliebte Plattform, deren Abkürzung ganz undeutsch für „Politically Incorrect“ (also „politisch unkorrekt“) steht, gab der Nachricht aus Hamm einen ganz neuen Dreh – schon mit dem Eingangssatz. „Wohnraum in deutschen Ballungszentren ist knapp und seit das Merkelregime diesen großzügig dem Elend der Welt zur Verfügung stellt noch knapper“, beginnt der am 5. Mai auf pi-news.net erschienene Artikel.

Nach der Schilderung des Sachverhalts endet der Text in etwas wackliger Grammatik: „So kann es bald vielen gehen, die mindestens vier Monate ihr Eigentum ohne des Grundes der Sanierung leer stehen lassen. Wie Wohnungen nach Vermietung an eine bestimmte, derzeit in Deutschland bevorzugte Klientel aussehen ist hinlänglich bekannt. Dass bei Vermietung an Zigeuner und andere ,Goldstücke‘ der Wert der Immobilie verfällt ist auch eben Pech für den Eigentümer. Eine nach der Bereicherung etwaige neuerliche Sanierung obliegt dann selbstverständlich wieder dem eigentlich Enteigneten.“ Einen Tag später übernahm das Blog „Journalistenwatch“ den Text von PI-News.

Ein Giftbrei aus falschen Zusammenhängen

So weit, so erwartbar: Die rechten Verschwörungstheoretiker hatten in völliger Verdrehung der Realität ein Hamburger SPD-Gesetz von 2013 mit dem von ihnen so genannten „Merkelregime“ und der Flüchtlingswelle von 2015 zusammengemanscht – und den üblichen Giftbrei gekocht. Dann aber schafften die „Fake News“ es auch über den ­Atlantik.

Denn nun wurde plötzlich das US-amerikanische Gatestone Institute auf das Thema aufmerksam, laut „FAZ“-Blogger Don Alphonso ein „konservativer Thinktank einer zionistisch eingestellten Gönnerin, mit angeschlossenen Rechercheeinheiten und Publikationen“, der einen Europa-Zweig „unter dem schillernden Publizisten und Islamexperten Amir Taheri“ unterhält. „Gate­stone hat sich in den USA einen Namen durch Berichte über die Migrationsfolgen in Schweden gemacht, die einerseits weit verbreitet, andererseits als unzutreffend und ungenau kritisiert wurden“, schreibt Don Alphonso. Das Institut sei allerdings nicht Teil der Trump-nahen rechten „Alt Right“-Bewegung, sondern berichte durchaus differenziert.

Wohnungen für Migranten beschlagnahmt

Diese Einschätzung scheint auch der am 14. Mai auf der Netzseite www.gatestoneinstitute.org erschienene Artikel zunächst zu belegen. Die Enteignung in Hamburg-Hamm wird dann allerdings auch hier in den Kontext der Flüchtlingskrise gestellt, und in der Überschrift wird schließlich ein Zusammenhang behauptet, der so nicht existiert. Sie lautet nämlich: „Germany Confiscating Homes to Use for Migrants“, also: Deutschland beschlagnahmt Wohnungen für Migranten.

So wird ein völlig falscher Eindruck erweckt. Denn, noch einmal: Es ging um die Anwendung eines Hamburger Gesetzes in Hamburg, das von 2013 stammt und nichts mit der Flüchtlingswelle zu tun hat – nicht um Deutschland und Migranten. Zwar werden in dem Artikel auch angebliche Pläne des Berliner Senats von 2015 erwähnt, Privateigentum zur Unterbringung von Flüchtlingen zu beschlagnahmen. Es wird aber auch berichtet, dass diese verworfen wurden, weil sie als nicht vereinbar mit dem Grundgesetz angesehen worden seien.

Bewusstes Anwerfen der Fake-News-Maschine

Dass es Gatestone-Autor Soeren Kern womöglich nicht ausschließlich um eine seriöse Aufbereitung der Wohnungskrise geht, lässt der letzte Satz seines Beitrags vermuten. „Mittlerweile fragen manche Deutsche, was als Nächstes kommt“, schreibt Kern dort. „Werden die Behörden nun die maximale Wohnfläche pro Person beschränken und diejenigen mit großen Wohnungen zwingen, sie mit Fremden zu teilen?“ Diese Unterstellung in Frageform ist dermaßen weit hergeholt, dass sie fast schon wie das bewusste Anwerfen der Fake-News-Maschinerie erscheint – und genau das war dann auch ihre Wirkung.

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Noch am selben Tag wurde die Geschichte von der Seite „Gateway Pundit“ übernommen – laut Don Alphonso „eher ein Teil der Alt-Right-Bewegung“, zudem bisweilen Quelle des konservativen TV-Senders Fox News und seit Trumps Regierungsantritt sogar im Weißen Haus akkreditiert. Gateway Pundit kürzte den Text des Gatestone-Instituts stark ein, garnierte ihn mit dem Foto eines Flüchtlingstrecks und schrieb darüber: „Deutschland beschlagnahmt jetzt Wohnungen zur Nutzung für Merkels Mi­granten“. Am Ende fügte Autor Josh Caplan noch eine eigene Duftnote hinzu und schrieb: „This is truly UNPRECEDENTED! Will Merkel’s madness ever come to an end?“, also etwa: „Das gab es noch nie! Wird Merkels Wahnsinn irgendwann enden?“

Vorurteile gegen Merkel-Deutschland bestätigt

Damit war mit dem Stille-Post-Wahnsinn aber noch lange nicht Schluss. „Die Geschichte brennt weiter“, schreibt Don Alphonso. „Zuerst im Reddit-Subforum The Donald, wo sich die eingeschworenen Trump-Fans treffen und zu Dutzenden versichern, sich gegen solche Maßnahmen mit Gewalt zu wehren. Oder bei Free Republic, einem anonymen Messageboard für Freunde konservativer Politik.“ Im sozialen Netzwerk Twitter wird die Geschichte erst richtig groß, als der „britische Alt-Right-Aktivist“, YouTuber und Vordenker der bei Verschwörungstheoretikern beliebten Seite „Infowars“, Paul Joseph Watson, den Gateway-Pundit-Artikel am 14. Mai an seine rund 582.000 Follower verbreitet. Bis zum Dienstag wurde sein Tweet mehr als 6100-mal weitergeteilt und fast 6000-mal geliked.

Dass eine aus Hamburger Sicht vergleichsweise kleine Geschichte eine solche Welle in den USA macht, könnte laut „FAZ“-Blogger auch mit der Materie zu tun haben, um die es geht. „Natürlich ist das eine verzerrte Wahrnehmung, aber in einem Land, in dem das eigene Anwesen höchsten Schutz genießt, klingt das Hamburger Vorgehen wie ein Bericht aus Lenins UdSSR“, schreibt Don Alphonso. So sähen viele Amerikaner ihre Vorurteile gegen ein angeblich durchgedrehtes Merkel-Deutschland bestätigt.

Rechte Blogs aus USA und Deutschland kooperieren

Allerdings dürfte die schnelle Verbreitung und Verfälschung der Geschichte auch eine andere Ursache haben: die mittlerweile offenbar sehr enge Kooperation von rechten Blogs und Internetseiten aus den USA mit AfD-nahen und neurechten deutschen Netz-Plattformen. Wie schnell sich Verschwörungsfans und Rechtspopulisten über den Atlantik austauschen, hatte 2015 schon die Hamburger Grünen-Abgeordnete Stefanie von Berg erlebt.

„Ich bin der Auffassung, dass wir in 20, 30 Jahren gar keine ethnischen Mehrheiten mehr haben in unserer Stadt“, hatte von Berg im November 2015 in der Bürgerschaft gesagt. Das würden auch Migrationsforscher prognostizieren. Die Stadt werde eine „superkulturelle Gesellschaft“ sein, so die gebürtige Göttingerin. „Und ich sage Ihnen auch ganz deutlich, gerade hier in Richtung rechts: Das ist gut so.“

Morddrohungen nach Tatsachenverdrehung

Die AfD stellte das Video der Rede später auf ihre Facebook-Seite und schrieb darüber: „Das politische Ziel der Grünen: Es soll keine deutsche Bevölkerungsmehrheit mehr geben.“ Es folgte nicht nur ein Shitstorm, sondern auch Dutzende Mails, in denen von Berg Mord und Vergewaltigung angedroht wurden. Manche Urheber mussten sich dafür später vor Gericht verantworten und wurden verurteilt. Wie die „Zeit“ recherchierte, griff auch damals der einflussreiche Neurechte Paul Joseph Watson das Thema auf – und präsentierte von Berg bei Twitter und „Infowars“ als „Politikerin, die den demografischen Selbstmord Deutschlands offen feierte“. Damit war eine kurze Rede aus der Hamburger Bürgerschaft schlagartig zum großen Aufreger im Trump-Umfeld geworden.

Es sieht bei alldem manchmal wirklich so aus, als sei das Internet kaputt. Vielleicht aber kann man es reparieren. Das jedenfalls glaubt der bekannteste deutsche Internet-Erklärer Sascha Lobo. Der Mann mit dem roten Irokesenschnitt hat sich für die am morgigen Donnerstag um 23 Uhr bei ZDFneo laufende Dokumentation „Manipuliert“ über die „Wirkung der sozialen Medien auf die Gesellschaft“ auch mit rechten Netz-Gemeinschaften auseinandergesetzt. Lobos bei der re:publica vorgetragenes Fazit fällt keineswegs nur pessimistisch aus.

Fakten erklären und nicht nur verlinken

Nicht jeder, der sich im Netz als unbelehrbarer Extremist gebärde, gehöre wirklich in diese Kategorie, so Lobo. Viele seien bloß „irritiert, konservativ, ängstlich ... oder schlicht ein Troll oder temporärer Arsch“, zitiert das WDR-Blog Digitalistan den Netzmeister. Deswegen müsse man „klare Kante zeigen und in die Diskussion gehen“. Also geduldig argumentieren, Fragen stellen, Verständnis zeigen, eigene Schwächen anführen – und Fakten erklären und nicht nur verlinken. Auch Empathie sei wichtig. „Wenn wir etwas gelernt haben, dann, dass die Macht des Wortes noch immer Bestand hat“, so der plötzlich wieder so optimistische Lobo. „Worte haben Wirkungen, und Debatten haben Macht. Ich rufe euch auf: diskutiert!“