Heute beginnt der Prozess gegen Oskar Gröning. Er war Mitglied der SS und Buchhalter im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Das Aktenzeichen liest sich so banal wie jedes andere auch. 27 Ks 9/14. Ein paar Buchstaben, ein paar Zahlen. Sie stehen für ein unvorstellbares Verbrechen. Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen, begangen von einem Mann. Ein paar Buchstaben, ein paar Zahlen. Hunderttausende Tote.

27 Ks 9/14 ist die Signatur eines Prozesses, der am heutigen Dienstag vor der Vierten Großen Strafkammer des Lüneburger Landgerichts beginnt. Gegen einen Mann, der damals etwa 20 Jahre alt war. Heute ist er 93. Oskar Gröning war Buchhalter in der Kommandantur des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, und er war Mitglied der Waffen-SS. In der „Häftlingsgeldverwaltung“ soll Gröning die Wertsachen der in die Gaskammern getriebenen Opfer gesichert und damit die Staatskasse der Nazis aufgefüllt haben. Er soll das Bargeld der ermordeten Juden registriert, sortiert und nach Berlin geschickt haben. Das Gepäck der Opfer blieb auf der Rampe von Birkenau liegen, unter Aufsicht der KZ-Wachen schafften es die Häftlingskommandos beiseite. Auch daran soll Gröning beteiligt gewesen sein.

Oskar Gröning also stand an der Rampe von Auschwitz. Und nun wird er vor der Richtern in Lüneburg stehen, die über seine Verantwortung am Holocaust zu entscheiden haben. Doch in dem Prozess geht es nicht nur um Oskar Gröning. Es geht auch um die Frage, ob ein Rechtsstaat 70 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes ein angemessenes Urteil für ein Verbrechen von unvorstellbarem Ausmaß finden kann. Und es geht um die Frage, wie viel eine Gerichtsverhandlung gegen einen 93 Jahre alten Mann zur Aufarbeitung des Holocaust an den europäischen Juden heutzutage beitragen kann.

Gröning bekleidete in dem Vernichtungslager keinen hohen Posten, er war auch keiner, der eigenhändig tötete. Aber er war einer von vielen, die mit ihrer Arbeit dazu beitrugen, die Maschinerie des millionenfachen Mordens in Gang zu halten.

Es gibt ein altes Passfoto von Oskar Gröning. Es zeigt ihn als jungen Mann. Seine Gesichtszüge sind jugendlich sanft, fast ein wenig traurig blickt er an der Kamera vorbei. Die Schirmmütze mit dem Totenkopfemblem sitzt ihm etwas schräg auf dem Kopf, am Kragen seiner Uniform prangen die Runen des SS-Zeichens. Und es gibt ein zweites Foto, das vor einigen Jahren entstand. Es zeigt einen weißhaarigen Pensionär, das Haar ist zurückgewichen, Falten durchziehen sein Gesicht. Zwei Fotos, dazwischen ein ganzes Leben, unbeachtet von der deutschen Justiz.

Als er noch Interviews zu seiner Zeit in Auschwitz gab, sprach Gröning von sicht selbst als „Rädchen im Getriebe“. Die Ermittler der Staatsanwaltschaft beschreiben es anders. Er habe das „systematische Tötungsgeschehen“ unterstützt und dem NS-Regime durch seine Tätigkeit „wirtschaftliche Vorteile“ verschafft, heißt es in ihrer Anklage, die sich aus rechtlichen Gründen auf die sogenannte Ungarn-Aktion beschränkt. Dabei wurden 1944 binnen acht Wochen 425.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz verschleppt und weit mehr als 300.000 auf der Stelle ermordet. Die Gaskammern liefen Tag und Nacht. Es war ein grausamer Höhepunkt des Holocaust, in der grausamen Logik der Täter war es ein logistisches Meisterstück. Die „Ungarn-Aktion“ machte Auschwitz-Birkenau zu dem, was es heute ist: Das schlimmste Vernichtungslager der Nazis.

Rechtsanwälte sind berufsbedingt zur Nüchternheit angehalten. Einer, der sich in dieser Hinsicht mehr Freiheiten erlauben kann, ist Thomas Walther. Der ehemalige Richter, der in Lüneburg zur Schule ging und in Hamburg studierte, vertritt zahlreiche Nebenkläger in dem nun beginnenden Prozess gegen Gröning. Er hat sich in die Biografie des Angeklagten eingelesen, und er hat in vielen Gesprächen viel über das Leben seiner Mandanten erfahren. Lebenswege, die sich vor etwas mehr als 70 Jahren in der von Menschen gemachten Hölle von Auschwitz-Birkenau kreuzten.

Walther erzählt von Gabor A. aus dem ungarischen Nagykallo, einem Teenager, der mit seiner älteren Schwester im Frühsommer 1944 mit einem der völlig überfüllten Deportationszüge in dem Lager ankam. Gabor A. wurde bei den berüchtigten Selektionen auf der Rampe als „arbeitsfähig“ eingestuft und überlebte. Seine Schwester Magda aber, die zehn Tage zuvor ein Kind zur Welt gebracht hatte, sah er dort zum letzten Mal. Mütter mit Kindern wurden ausnahmslos ermordet. „Bis heute sieht er noch das Baby in ihren Armen“, sagt Walther. Für Überlebende wie Gabor A. habe es einen „unglaublich hohen Stellenwert“, dass es nun zum Prozess gegen Gröning komme. „Wie sehr, das habe ich mir früher gar nicht vorstellen können.“ Ein Urteil gegen Gröning wird Magda nicht zurückbringen. Aber es erleichtert Gabors Leben mit dem Schmerz.

Walther kennt sich aus mit den Erinnerungen an die Ermordeten – und dem Leben der Mörder. Er war nicht nur Richter, sondern zeitweise auch selbst Ermittler bei der sogenannten Zentralen Stelle im baden-württembergischen Ludwigsburg, einer Art Spezialermittlungsabteilung der deutschen Staatsanwaltschaften zur Vorbereitung von Anklagen gegen mutmaßliche NS-Verbrecher. Er war auch mit der Anklage gegen Wachmann John Demjanjuk befasst, der 2009 vom Landgericht München wegen seines Diensts im NS-Vernichtungslager Sobibor verurteilt wurde.

Die Überlebenden von Birkenau leben heute in Israel, Kanada, USA, Ungarn

Wie damals ist die Aufmerksamkeit im Fall Gröning groß, nicht zuletzt im Ausland. Die Überlebenden von Birkenau leben heute in Israel, Kanada, den USA oder Ungarn. Aber es geht nicht nur um die persönliche Betroffenheit. NS-Prozesse sind für Überlebende immer auch ein genereller Gradmesser dafür, wie Deutschland mit seiner schwierigen Vergangenheit umgeht.

Gegen mehr als 120.000 Personen haben Strafverfolger in der Bundesrepublik seit Beginn der systematischen juristischen Spurensuche 1959 ermittelt, rechtskräftig schuldig gesprochen wurden am Ende gerade einmal 560. Die Aufarbeitung des Holocaust gilt vielen deshalb als gescheitert. Es gab prägende Prozesse wie das erste Auschwitz-Verfahren in den 1960er Jahren in Frankfurt, es gab auch engagierte Nazi-Jäger und akribische Ermittler. Aber es gab eben auch enorme Widerstände. Verbrechenstatbestände verjährten, ohne dass der Gesetzgeber einschritt, die Aufarbeitung erfolgte trotz der Einmaligkeit der Verbrechen im Rahmen der normalen Strafgesetze. Ermittler und Täter paktierten miteinander, es gab skandalöse Verfahrenseinstellungen. Und es gab die Widerstände einer Gesellschaft, die den Krieg erlebt und die Verbrechen begangen hatte. Die aber einen Schlussstrich ziehen wollte. Auch heute meinen immerhin 42 Prozent der Deutschen einer Umfrage zufolge, die NS-Vergangenheit sei genügend aufgearbeitet.

Mochte die Strafverfolgung einzelner hoher Nazis oder besonders sadistischer „Exzesstäter“ noch auf Sympathien stoßen, wurde die tagtägliche Verstrickung von Verwandten und Freunden in den organisierten Massenmord weit weniger gern thematisiert. „Opa war kein Nazi“ heißt ein Buch, das sich damit befasst. Das spiegelte sich auch vor Gericht wider: Mitläufer, die in Todeslagern Dienst nach Vorschrift machten, wurden lange nie belangt.

Das änderte sich erst in jüngerer Zeit. Nicht durch spektakuläre gesetzgeberische Schritte, sondern durch beinahe beiläufige Gewichtsverschiebungen. Richter am Oberlandesgericht in Hamburg, am Münchner Landgericht und am Bundesgerichtshof senkten die Anforderungen für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord in Prozessen gegen den Terrorhelfer Mounir Motassadeq und den NS-Täter Demjanjuk im Vergleich zu früher merklich. Es reicht nun aus, wenn ein Beschuldigter in eher „neutraler“ Weise in eine Organisation eingebunden ist, die die Verbrechen begeht – sofern ihm deren Absichten nachweislich bekannt sind.

„Vor allem mit dem Demjanjuk-Verfahren ist frischer Wind in die NS-Verfolgung gekommen“, sagt Thomas Will, stellvertretender Leiter der Zentralen Stelle in Ludwigsburg und einer der obersten deutschen NS-Ermittler. Beihilfehandlungen müssten nicht mehr „kausal“ für die eigentlichen Tötungen sein. „Eine Person muss nur erkennen, was los ist.“ Soll heißen: Nicht mehr nur Tätern in Schlüsselpositionen drohen Anklagen, sondern jedem, der mit seiner Tätigkeit die Verbrechen in den Lagern unterstützte. Das gilt bis hin zu Köchen oder Sanitätern. Es gilt auch für Oskar Gröning. Die allermeisten der willigen Helfer sind längst tot. Gröning lebt.

Vor dem Prozess äußert er sich nicht mehr, sein Verteidiger schirmt ihn ab. Vor etwa zehn Jahren aber erzählte er in einem Interview noch ausführlich und durchaus nachdenklich, wie er von den Gaskammern erfuhr und beobachtete, wie Wachleute in Auschwitz ein zurückgelassenes Baby auf der Rampe ermordeten. Gröning bewachte da gerade das Gepäck der Deportierten. „Da steht man dann da, und es gibt nur noch das Gefühl: Ich bin eingespannt in das Notwendige, das fürchterlich ist. Aber notwendig“, sagte er. Er fühle sich schuldig, dass er zu einer „Truppe“ gehört habe, die den Holocaust beging. Er bitte das jüdische Volk „um Verzeihung“. Er selbst allerdings sei kein Täter.

Soll der Prozess frühere Versäumnisse bei der Strafverfolgung kaschieren?

Anwalt Walther billigt Gröning zu, sich mit derartigen Aussagen immerhin von anderen NS-Tätern in früheren Prozessen abzuheben. Dessen Argumentation jedoch teilt er nicht. Das Wegschaffen des Gepäcks sei keine unschuldige Aufgabe gewesen, sagt Walther. Auch die Staatsanwaltschaft sieht das so. Nach den oft tagelangen Transporten lagen in den Waggons bereits Tote und Sterbende. Und erst die Beseitigung der Leichen und der herrenlosen Habseligkeiten der Ermordeten verschleierte für die nachfolgenden Opfer, dass das Ziel der Deutschen ihre Vernichtung war. „Dieser Täuschungsaspekt aber war entscheidend.“

Nur wem nützt es noch? Muss ein Prozess gegen einen hochbetagten Pensionär aus der Lüneburger Heide dafür herhalten, frühere Versäumnisse bei der Verfolgung von NS-Verbrechern zu kaschieren? Sollte ein Staat versuchen, fast 100-Jährige ins Gefängnis zu stecken? Oder sind diese Einwände irreführend, sollte man eher fragen: warum nicht?

Aus der Perspektive des Rechtsstaats ist die Sache ohnehin klar. Er kann und darf nicht willkürlich entscheiden. „Wir müssen die Arbeit machen, die zu machen ist“, sagt NS-Ermittler Will. Er hält es für richtig, die Täter vor Gericht mit ihren Taten zu konfrontieren.

Und es geht auch um aktuelle Symbole, mahnende Zeichen für künftige Völkermörder. Der Holocaust mag Geschichte sein, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Hass sind es nicht. Auch in Deutschland werden heute Völkermordverfahren gegen Angeklagte aus Ruanda geführt. Warum sollten sie anders behandelt werden als jene, die vor 70 Jahren nach eigenen Bekunden nur ein „Rädchen im Getriebe“ waren? Strafrecht soll einen Ausgleich schaffen für das Unrecht, das jemand beging. „Das vergeht ja nicht mit der Zeit“, sagt der Hamburger Jura-Professor Florian Jeßberger.

Und es geht um die Gefühle von Garbor A., der seine Schwester und ihr Kind in den Gaskammern von Birkenau verlor. Um ein Urteil gehe es seinen Mandanten gar nicht, sagt Anwalt Walther. Vielmehr um den Respekt, den die deutsche Justiz ihm damit entgegenbringt. Richter im Land der Täter urteilen über die Täter, ein deutsches Gericht schafft Ausgleich für deutsches Unrecht.

Gabor A., der auf der Rampe von Birkenau seine Schwester zum letzten Mal sah, lebt heute in Kanada. Er ist zu alt, um nach Lüneburg zu reisen. Seine Tochter und seine beiden Enkelinnen fahren aus New York zum Prozessauftakt. Sie sind fast 18 Jahre alt und damit so alt wie ihr Großvater damals auf der Rampe in Auschwitz. Der Schrecken der NS-Verbrechen prägt nicht nur die Überlebenden. Er lässt auch die jüngeren Generationen nicht los.