Atmen Sie tief ein, atmen Sie bis hinunter in den Bauch, tief in den Bauch. Halten Sie den Atem dort für eine...

Atmen Sie tief ein, atmen Sie bis hinunter in den Bauch, tief in den Bauch. Halten Sie den Atem dort für eine Weile.

Als ich acht oder neun bin, spielen Simon und ich ein Spiel, das Steineregen heißt. Einen Sommer lang verdrücken wir uns jeden Nachmittag zu einem der Feldwege am Dorfrand und fangen an, wie verrückt Steine zu sammeln. Dann stellen wir uns ganz dicht zusammen, Rücken an Rücken, und werfen sie so gerade und so hoch in die Luft wie wir können. Dann lassen wir uns auf den sandiggrauen Boden fallen, ziehen unsere Köpfe zwischen die Schultern und die Arme vors Gesicht.

Spüren Sie jetzt, wie der Atem Ihre Lungen ganz ausfüllt, stellen Sie sich Ihren Atem jetzt als eine kleine Sonne vor, einen warmen Ball in Ihrem Bauch.

Dann prasseln die Steine auf uns nieder. Ein Steinhagel, jeder Brocken härter als unsere Arme und Beine, härter als unsere Rücken und Köpfe und die Knochen darunter.

Ich bin ein ziemlich guter Erwachsener. Ich halte meine Wohnung sauber, gehe ins Fitnessstudio und ernähre mich vernünftig. Ich habe im letzten Jahr keinen Tag bei der Arbeit gefehlt. Ich beschwere mich scherzhaft über unbezahlte Überstunden und schenke Kollegen ein natürliches Lächeln. Ich entspanne mich beim Yoga. Ich entspanne mich jetzt gerade beim Yoga.

Ich war auch ein gutes Kind, denke ich. Ich habe Dinge gemacht, die ich heute in Cocktailbars mit einem Augenzwinkern meinen Geschäftspartnern erzählen kann. Ich bin ein guter Erwachsener, weil ich die richtigen Geschichten kenne.

Wir werfen die Steine in die Luft, die sich da oben in Geschosse verwandeln. Wir rollen uns zusammen, und dann schlagen sie ein. Zehn, zwanzig Staubwölkchen um uns herum, die wir nicht sehen, weil wir die Augenlider fest zusammengepresst haben. Zehn, zwanzig dumpfe Geräusche, kurz hintereinander, ein Prasseln, das wir genau hören, weil wir in dem Moment nur Haut und Ohren sind. Eine Haut, die damit rechnet, Schmerz zu spüren und Ohren, die nach dem Aufschrei des anderen horchen.

Jetzt atmen Sie aus und lassen Sie die Sonne langsam Ihren Hals hinaufsteigen, lassen Sie den warmen, orangefarbenen Ball in Ihrem Mund und in Ihrem Kopf aufgehen.

Ich mache Geschäftsreisen. Ich esse Riesensteaks in Texas, Borschtsch in Moskau und fühle mich verloren in Tokio. Ich liege in Hotels auf Betten und bezahle für Pornokanäle, um mich nicht krank zu fühlen, rühre aber die Minibar nie an. Manchmal, wenn das Essen lang gedauert und die Hotelbar schon zu hat, kommt ein Geschäftstermin noch mit auf mein Zimmer. Dann öffne ich die volle Minibar, sage, dass ich eigentlich nie etwas aus der Minibar nehme und erzähle eine Geschichte. Zum Beispiel die, in der ich als Kind mal Strohrum aus dem verspiegelten Schnapsschränkchen des Vaters genommen und einen Schluck davon getrunken habe. Dann lacht der Geschäftstermin und erzählt die gleiche Geschichte mit einer anderen Sorte Alkohol. Ich kann meine Strohrum-Geschichte auf Deutsch, Englisch, Spanisch und wackligem Russisch erzählen. Für die Russen tausche ich den Strohrum gegen Wodka aus. Ich habe das einmal ausprobiert, das kommt gut an. Ich habe haufenweise Geschichten.

Und nun bewegen Sie den Kopf langsam nach rechts, bringen Sie Ihre Bewegungen mit Ihrem Atem in Einklang, Kopf nach links ... ausatmen, zur Mitte ... einatmen, nach rechts ... ausatmen, zur Mitte ... einatmen. Versuchen Sie aus diesem Ablauf eine langsame, fließende Bewegung werden zu lassen, atmen Sie langsam und tief.

Nach dem Steineregen gehen wir in den Partykeller von Simons Eltern. Abba-Poster und Tierköpfe hängen an vertäfelten Wänden, Barhocker stehen vor einer klebrigen Theke. Es riecht nach feuchten Teppichen und altem Rauch. Wir spielen Action-Figuren. Abwechselnd ist einer von uns ein blonder, muskelbepackter Plastikmann mit Ritterfrisur und Lendenschurz, der andere eine lilafarbene Figur mit einem schlechtezähnegelben Schädel statt einem normalen Gesicht. Jeder eine Figur in der Hand, lassen wir die zwei immer wieder aufeinanderknallen. Wir wollen beide immer den Blonden spielen, obwohl wir glauben, dass der Schädelmann mächtiger ist.

Wenn das langweilig wird, spielen wir Hexe. Einer ist ein normaler Mann, der in einer Telefonzelle ein Gespräch mit seiner Ehefrau führt, gerade ein Auto einparkt oder auf einer Parkbank sitzt und eine Zeitung liest. Der andere ist eine Hexe auf der Suche nach Menschenfleisch. Sie hat sich getarnt, um sich unentdeckt durch die bewohnten Straßen zu bewegen.

Meine Geschäftspartner schreiben E-Mails an meine Chefs, wie wunderbar man sich mit mir amüsieren könne. Meine Chefs kommen zu mir und gratulieren. Meine Chefs erzählen mir von der amüsanten Strohrum-Geschichte, die Ihnen ein Geschäftspartner weitererzählt habe, und knuffen mir kumpelhaft in die Seite. Ich sei ja ein schlimmer Finger gewesen als Kind. Ich sei ja aber auch ein grandioser Angestellter heute. Ich solle, wenn ich das nicht schon längst täte, langsam mal anfangen, Vielfliegermeilen zu sammeln. Ich würde viel rumkommen in nächster Zeit. Ich bin ein guter Erwachsener, weil ich weiß, wie man die Dinge richtig macht, wie man die richtigen Geschichten erzählt.

Nach links ... ausatmen, zur Mitte ... einatmen, nach rechts ... ausatmen, zur Mitte ... einatmen. Spüren Sie dabei Ihren Hinterkopf. Lassen Sie ihren Kopf ganz schwer werden. Spüren Sie jede Stelle, an der ihr Kopf in der Bewegung den Boden berührt.

Wenn die Hexe ein Opfer gefunden hat, ist das Opfer ganz unwissend, vertieft in die Zeitung oder in ein Telefonat oder in die Armaturen des Wagens. Dann schlägt sie zu, packt ihr Opfer, hält ihm den Mund zu und schleift es in die nahegelegene Höhle. Dort zeigt sie ihr wahres Gesicht. Das Opfer ist starr vor Schreck, und sie kann mit ihm machen, was sie will. Die Hexe dreht den Mann auf den Bauch und zieht ihm die Hose herunter. Dann legt sie ein Ohr auf den warmen Hintern ihres Opfers. Sagt, was für ein schönes Stück Speck. Dann dreht sie das Opfer um, streicht langsam mit der Hand die Innenseite der Schenkel hinauf, schaut sich alles genau an und sagt, das wird mir schmecken.

Simons Mutter drückt die Türklinke herunter. Sie klopft an die Tür, fragt, ob wir hier drin seien, sie fragt, warum wir abgeschlossen haben. Hastig ziehe ich meine Hose hoch, meine Hände zittern, meine Gürtelschnalle klickt verräterisch, wir verstecken uns hinter der Bar und halten den Atem an. Sie sagt, wir sollen aufmachen. Sie sagt wir sollen sofort aufmachen. Sie fragt, was wir da drinnen anstellen. Sie fragt, ob wir da drinnen von dem Alkohol trinken würden. Wir sehen uns an, wir gehen zur Tür, machen sie auf und lassen uns dafür ausschimpfen, dass wir aus den Flaschen getrunken haben.

Ich liege auf einem Bett in einem klimatisierten Hotelzimmer in einer Stadt in Süd-Amerika. Es ist Nacht, und ich höre nichts als das Summen der Klimaanlage und das leise gedrehte Ächzen und Stöhnen der asiatischen Lesbierinnen aus dem Pornokanal. Ich bewege meine Hände vor meinem Gesicht, und das blaue Licht des Fernsehers lässt sie aussehen wie die Hände einer Leiche. Ich stelle mir vor, wie das Blut aufgehört hat durch meine Adern zu strömen, wie die Haut ganz kalt ist und die Zellen, die roten und weißen Blutkörperchen sich auf dem Grund der Venen und Arterien zu einem dicken Schlamm abgesetzt haben und nur noch das Plasma durchsichtig und träge in mir schwappt. Dann klingelt das Telefon, ich hebe ab, der Empfang sagt, dass mein Taxi jetzt da sei, und ich steige zurück in meinen Anzug.

Wir stehen auf dem Feldweg und spielen Steineregen. Wir werden nie getroffen, das wissen wir. Wir sammeln größere, spitzere Steine. Wir lassen uns nicht mehr auf den staubigen Boden fallen. Wir werfen die Steine hoch und sehen ihnen nach, sehen wie sie in den blauen Sommerhimmel aufsteigen wie ein Schwarm schwarzer Vögel, wie sie zu kleinen Stecknadelköpfen vor der blendenden Sonne werden, wie sie langsamer werden und schließlich runterkommen als ein Sturzflug schwarzer Projektile. Es ist das letzte Mal, dass wir Steineregen spielen.

Füllen Sie Ihre Lungen noch einmal mit Sauerstoff, heben Sie dabei langsam die Arme über den Kopf. Bringen Sie Ihre Atmung mit Ihren Bewegungen in Einklang. Arme über den Kopf ... einatmen, senken Sie die Arme ... ausatmen, Arme heben ... und einatmen.

Die Steine prasseln auf uns herunter. Simon und ich haben Blicke starr in den Himmel gerichtet. Dann lässt mich ein Geräusch zusammenfahren. Ein trockener, dumpfer Laut, ein komisches Geräusch, ein Schlag auf einen Sack voll Murmeln. Ich senke den Blick, drehe mich um. Da steigt ein Mann aus seinem Auto aus. Da steigt ein Mann aus seinem Auto und brüllt uns an. Ein Spinnennetz aus feinen Rissen zieht sich über die Windschutzscheibe des Wagens. Ich schaue Simon an. Und Simon schaut mich an. Wir können nichts sagen, wir können dem Mann nichts sagen. Wir können dem Mann das Spiel nicht erklären. Wir können den Eltern das Spiel nicht erklären. Wir wollen nie wieder Steineregen spielen. Wir sprechen uns nicht ab. Das brauchen wir nicht. Wir wollen nie wieder Steineregen spielen. Und wir wollen nie wieder Hexe spielen.

Und nun atmen Sie aus und aus und aus.

Ich bin ein guter Erwachsener, weil ich gut funktioniere, weil ich nicke und lächle, weil ich in Flugzeuge und Taxen steige. Ich bin ein guter Erwachsener, weil ich die richtigen Geschichten erzähle.

Ich atme aus und aus und aus.


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