Die Nummer ist richtig, sagt die Stimme, aber der Zeitpunkt ist...

Die Nummer ist richtig, sagt die Stimme, aber der Zeitpunkt ist falsch.

Es piept. Zwanzigmal kurz, einmal lang. Er legt auf, läuft um das Hotelzimmerbett. Der tiefe Teppich unter seinen Schuhsohlen schluckt die Schrittgeräusche. Er schiebt die Gardine am Fenster zur Seite, schaut nach draußen. Draußen ist es dunkel. Er geht zurück zum Telefon, hebt ab, klemmt den Hörer zwischen Schulter und Ohr, wählt.

Knacken, knistern: Freizeichen. Er schließt die Augen, sieht in seinem Kopf die Wohnung, in der es jetzt klingelt, Gestalt annehmen, sieht das Telefon vor sich, jemanden daneben sitzen: sie, auf diesem Polsterstuhl mit dem auffälligen Stoffmuster. Er weiß, niemand sitzt dort. Nach dem fünften Freizeichen springt der Anrufbeantworter an.

Die Nummer ist richtig, sagt die Stimme, aber der Zeitpunkt ist falsch.

Es piept. Einundzwanzigmal kurz, einmal lang.

Ein Mann, sagt er nach dem langen Piepton, ein Mann steht morgens auf der Autobahn im Stau. Nicht irgendwo im Stau, sagt er, nein, der Mann steht ganz vorn im Stau, in der ersten Reihe, und der Grund für den Stau ist ein offensichtlich desorientiertes Tier, ein Wiederkäuer mit drei Meter langem Hals, eine Giraffe, sagt er.

Er schiebt sich den Notizblock, der auf dem Nachtschrank neben dem Telefon liegt, zurecht, kritzelt mit einem Plastikkugelschreiber etwas Giraffenmusterartiges auf das Papier. Er sagt: Der Mann hat es nicht eilig. Er ist zwar auf dem Weg zur Arbeit, aber ob er nun eine halbe Stunde früher oder später im Büro ankommt, das interessiert, wie er weiß, niemanden. Also lehnt er sich entspannt zurück, betrachtet die Giraffe und überlegt, wann er wohl das letzte Mal im Zoo gewesen ist.

Am anderen Ende der Leitung schaltet sich der Anrufbeantworter ab. Ein Klicken, ein langer Summton: Sprechzeit vorbei. Nach einer Pause ertönt das Besetztsignal.

Im Rhythmus des Tutens zählt er bis zweihundertdreizehn, kritzelt nebenbei weiter an dem Giraffenmuster. Im Nebenzimmer wird die Klospülung betätigt, Abwasser rauscht durch ein Rohr. Er legt sich auf das Bett, schlägt die Beine übereinander, starrt an die Decke.

Stimmt irgendetwas nicht?

Ich weiß auch nicht, sagt sie.

Du siehst nicht glücklich aus.

Sie sagt: Keine Ahnung, vermutlich ist es die Wohnung.

Dabei ist sie wirklich schön, sehr hell, gemütlich, gefällt mir.

Ich bitte dich, lass das, ehrlich.

Was soll ich lassen?

Wir hätten uns nicht hier treffen sollen.

Es ist deine Idee gewesen, sich diesmal bei dir zu treffen.

Ich weiß, ich hab's mir anders vorgestellt, es funktioniert nicht.

Okay, kein Problem, fahren wir woanders hin.

Ich habe dir gesagt, dass ich dieses Hotel nicht mehr betrete.

Wir müssen nicht ins Hotel, lass uns rausfahren, spazieren gehen.

Spazieren gehen? Du willst mit mir spazieren gehen?

Klar, warum nicht, was ist daran so komisch?

Nichts, im Gegenteil.

Ich habe das ernst gemeint mit dem Spazierengehen.

Ja, das ist es eben. Wir müssen damit aufhören.

Womit?

Damit, sagt sie.

Die Nummer ist richtig, sagt die Stimme, aber der Zeitpunkt ist falsch.

Es piept. Er sitzt auf der Bettkante, überlegt einen Moment, sagt dann: Okay, während der Mann da also im Stau steht und darüber nachsinnt, wann er nun zuletzt im Zoo gewesen ist, telefoniert die junge Frau im Nebenauto mit ihrem Verlobten. Sie ist fürchterlich aufgeregt. Die junge Frau glaubt nämlich, dass ihr Verlobter sie hintergeht. Einen entsprechenden Verdacht hat sie bereits länger, ein paar Wochen schon, aber seit etwa einer Viertelstunde gibt es für sie eigentlich keine Zweifel mehr. Vor etwa einer Viertelstunde ist ihr aufgefallen, dass irgendwer vergessen hat, den Knopf der Beifahrertür runterzudrücken. Das wiederum kann, wie sie geschlussfolgert hat, nur am Vorabend passiert sein, und am Vorabend ist nicht sie, sondern ihr Verlobter mit dem Wagen unterwegs gewesen. Angeblich, um ins Fitnessstudio zu fahren.

Angeblich, sagt er.

Wieder macht es klick und beep, und das Besetztsignal ertönt. Er zählt. Diesmal bis einhundertachtundvierzig. Nebenbei schreibt er in schnörkeliger Kritzelschrift unter das Giraffenmuster: Ich wäre für ein Happy End. Hinter das Wort wäre fügt er mit einem Pfeil noch das Wort tendenziell ein, unterstreicht es doppelt, umrandet es mehrfach. Er legt den Stift zur Seite, unterbricht die Verbindung, schaut zur Uhr. Kurz vor halb elf. Punkt halb drückt er den Knopf unten rechts am Telefon: Wahlwiederholung. Laut Strichliste, die er ab sofort zu führen beginnt, macht er das noch siebenundzwanzigmal im Laufe der nächsten Stunden.

Du bist so still, was denkst du?

Ich denke, sagt sie, jetzt sind wir doch wieder hier gelandet, sie sagt: in diesem Schuppen.

Du wolltest ja nicht spazieren und auch nicht in den Zoo.

Das ist alles so sinnlos, ich ertrage das einfach nicht mehr.

Sinnlos, sinnvoll, davon verstehe ich nichts.

Wie, davon verstehst du nichts?

Diese Sinnkategorien, ich habe das noch nie begriffen.

Was redest du denn da?

Ist nicht wichtig, vergiss es.

Okay, ich glaube, du hast recht, wir sollten es vergessen, alles.

Was ist bloß los mit dir?

Was los mit mir ist? Was ist mit dir los? Das ist die Frage.

Du bist hier, mir geht es gut, alles ist ganz wunderbar.

Ja, dann sag mir doch jetzt bitte mal, wie es weitergehen soll mit uns.

Was weiß ich, aber tendenziell wäre es schön, wenn es weiterginge.

Tendenziell?

Was ist denn nun schon wieder?

Du solltest dich mal reden hören.

Was stimmt denn mit dem Wort tendenziell nicht?

Mit dem Wort stimmt alles.

Aber?

Nichts aber, es klingt einfach nicht nach Happy End.

Klingt es nicht?

Nein, sagt sie.

Die Nummer ist richtig, sagt die Stimme, aber der Zeitpunkt ist falsch.

Es piept, und er erzählt, dass es zu regnen beginnt. Er erzählt von der zweiten, dritten, vierten, fünften, sechsten, siebten, achten, neunten und zehnten Reihe des Staus, von einem Taxifahrer, der Gedichte schreibt, von einer Studentin, die ihre Prüfung verpasst, einem werdenden Vater, der Nägel kaut, einer Schönheitskönigin, die Kette raucht, einem Plakatkleber, der Leim schnüffelt, von der Giraffe, die stoisch vor der länger und länger werdenden Ansammlung der wartenden Fahrzeuge ausharrt.

Er kritzelt weiter Muster auf den Notizblock. Er baut den Plastikkugelschreiber auseinander, betrachtet und zählt die verblassten Blümchenmotive der Hotelzimmertapete, er baut den Plastikkugelschreiber wieder zusammen, starrt auf seine unausgepackte Reisetasche in der Ecke.

In einem roten Kombi in der elften Reihe des Staus, erzählt er bei seinem achtundzwanzigsten Anruf, macht eine geschiedene Gemeinschaftskundelehrerin ihrer Arbeitskollegin, einer Physik- und Chemielehrerin, mit der sie seit Jahren eine Fahrgemeinschaft bildet, ein Geständnis. Sie eröffnet ihrer Kollegin, dass sie, die Gemeinschaftskundelehrerin, sich schon seit längerer Zeit zu einem verheirateten Mann hingezogen fühlt, zum Mann einer guten Freundin, zu ihrem Mann eben, zu dem der Physik- und Chemielehrerin. Es laufe nichts zwischen ihnen, behauptet sie, aber irgendwie habe sie das mal loswerden müssen. Ihre Kollegin, erzählt er, starrt unterdessen teilnahmslos aus dem Fenster.

Er gähnt. Er legt auf, fügt der Strichliste einen weiteren Strich hinzu, ruft wieder an.

Was machst du da?

Dreimal darfst du raten, sagt sie, sie sagt: Wonach sieht es denn deiner Meinung nach aus?

Es sieht so aus, als würdest du gehen wollen.

Sag jetzt nicht, dass du mir noch ganz viel zu erzählen hast.

Möchtest du, dass ich dir etwas erzähle?

Normalerweise machen Menschen das so.

Was machen Menschen normalerweise?

Miteinander reden? Sich Dinge fragen.

Sehen wir uns nächste Woche?

Ich denke darüber nach.

Was heißt das wohl?

Das heißt, ich weiß es noch nicht.

Ich werde auf jeden Fall hier sein.

Und was, wenn ich nicht komme?

Das wäre sehr schade.

Ach, wäre es das?

Ja.

Und wieso?, wenn man fragen darf.

Vielleicht habe ich dir ganz viel zu erzählen.

Oh, sicher, klar doch.

Also, sehen wir uns nächste Woche?

Mal sehen, aber tendenziell denke ich: eher nein.

Ich werde trotzdem hier sein, auf dich warten - dich vermissen.

Ich weiß, sagt sie, sie sagt: Mach's gut.

Die Nummer ist richtig, sagt die Stimme, aber der Zeitpunkt ist falsch.

Es piept. Einundfünfzigmal kurz, einmal lang. Das Besetztsignal ertönt. Er wählt die Nummer erneut, aber es bleibt dabei. Der Anrufbeantworter schaltet sich nach dem Ansagetext und den Signaltönen ab.

Es ist kurz nach drei. Die Klimaanlage surrt, ansonsten ist es still im Hotelzimmer. Er lässt sich zurück aufs Bett fallen, wischt sich mit der Hand über das Gesicht. Seine Augen brennen. Er steht auf, rückt den Nachttisch zur Seite, reißt mit einem kräftigen Ruck das Telefonkabel aus der Wand, wickelt die Schnur um den Apparat. Er zieht seinen Mantel über, greift seine Reisetasche, nimmt das Telefon vom Nachttisch, verlässt das Zimmer. Gedimmtes Licht im Hotelflur. Die Stufen, die nach unten zur Eingangshalle führen, knarzen.

Vor der Rezeption stellt er die Reisetasche ab, legt das Telefon auf den Tresen. Die Rezeptionistin schaut fragend erst das Gerät, dann ihn an.

Schreiben Sie das Telefon bitte mit auf die Rechnung, sagt er und öffnet seine Brieftasche. Ich würde gerne zahlen.


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