Hungersnot, Armut und Elend - das ist das Bild, das die Vereinten Nationen für Afrika in Aussicht stellen. Sabine Tesche ist nach Äthiopien geflogen, um einen Einblick zu bekommen. Sie hat ein klein wenig Hoffnung gefunden.

Hunger? Hunger kannte Massara früher nicht. Als sie jung war, und das ist mindestens 70 Jahre her, da war das Land um sie herum fruchtbar und voller Bäume. "Nicht so wie jetzt", sagt sie und zeigt mit ihrem dürren Arm nach draußen, wo eine einzige Schirmakazie dem Gehöft Schatten spendet. Es ist der einzige Baum weit und breit, alle anderen wurden im Laufe der Jahre von den Dorfbewohnern abgeholzt. So konnte der Regen die gute Erde ungehemmt wegschwemmen. Massaras trübe Augen schweifen über die hellbraune Fläche rund um die Lehmhütte. Staub wirbelt über die aufgerissene Erde und färbt das Fell der mageren Ziegen grau. "Wir brauchen Regen", sagt sie, "auch der kam früher häufiger." Dieses Jahr, so wirkt es, fällt die kleine Regenzeit zwischen März und Mai in der äthiopischen Region Oromiya mal wieder aus. Die Klimaveränderung ist auch in Äthiopien spürbar. Und sie bedeutet noch mehr Hunger für Massaras Familie.

Das Dorf Sodo, wo sie mit ihren Enkelkindern lebt, liegt nur 100 Kilometer südwestlich von Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, doch vom Entwicklungsstand her liegen Jahrhunderte dazwischen. In Sodo beackern die Menschen ihre Böden mit genau den gleichen Holzpflügen wie noch vor 300 Jahren, sie benutzen Tierdung zum Heizen und glauben, dass möglichst viele Kinder gut für ihre Alterssicherung sind.

Dabei werden rund 18 Prozent der Kinder im Land nicht älter als fünf Jahre, die meisten sind stark unterernährt, und die durchschnittliche Lebenserwartung eines Erwachsenen liegt bei 48 Jahren. Schon allein deswegen ist die grauhaarige Massara eine Ausnahmeerscheinung im Dorf. 100 Jahre sei sie ungefähr alt, sagt sie verlegen, denn so genau weiß sie es nicht. Genau wie ihr Enkelsohn Boru (42) und dessen Frau Baratu (30) ist Massara Analphabetin - wie die meisten der 2745 Bewohner Sodos.

Es ist ein bitterarmes und damit durchschnittliches äthiopisches Dorf, und genau deswegen hat die Deutsche Welthungerhilfe (DW) es vor zwei Jahren als eins von 15 Millenniumsdörfern weltweit ausgesucht. "An seinem Beispiel soll gezeigt werden, dass es möglich ist, die Lebensverhältnisse von Menschen in Not dauerhaft zu verändern, so wie es die vereinten Nationen in ihrer Millenniumserklärung im Jahr 2000 beschlossen haben", sagt Bernhard Meier zu Biesen, Regionaldirektor der DW in Addis Abeba. "Unser Ziel ist es, dass die Menschen in Sodo in fünf Jahren den Hunger überwunden, ihre Ernteerträge um mindestens 30 Prozent gesteigert und alle Zugang zu sauberem Trinkwasser haben." In dieser Projektzeit wird das Dorf deswegen von der lokalen Nichtregierungsorganisation Community Development Service Ethiopia (CDSE) im Auftrag der Welthungerhilfe intensiv gefördert und die Erfolge dokumentiert.

Zudem wird das Dorf vom Hamburger Freundeskreis, einer Gruppe von Prominenten, sowie dem Verein "Viva con Agua" mit Spenden unterstützt. Viva con Agua wurde von dem ehemaligen St.-Pauli-Spieler Benny Adrion gegründet und hat sich auf die Finanzierung von Brunnen spezialisiert.

So viel Hilfe von außen waren die Dorfbewohner bisher nicht gewohnt. Sie waren anfangs sehr misstrauisch, als Mitarbeiter der CDSE im Jahr 2006 zu ihnen kamen. "Ich dachte, die wollen mir mein Land wegnehmen. Ich habe sie weggejagt", erzählt Massaras Enkelsohn Boru (42) beschämt. Doch die Helfer blieben hartnäckig. Sie zwangen sie nicht zu Programmen, sondern ließen die Dörfler bei den Projekten mitbestimmen.

Zudem bietet die CDSE Frauen und Männern verschiedene Workshops an: über neue Getreide- und Obstanbaumöglichkeiten, Bienenzucht, Kompostierung oder auch Malariabekämpfung. "Wir wollen möglichst alle Farmer ausbilden. Aber sie bekommen nichts ohne Eigeninitiative, wir praktizieren hier Hilfe zur Selbsthilfe", sagt Meier zu Biesen.

So hat Boru unter anderem ein Seminar über Ziegenhaltung besucht und als Startkapital drei Ziegen von der CDSE bekommen, allerdings mit der Auflage, vom ersten Wurf einige Zicklein an seine Nachbarn abzugeben. Inzwischen ist er stolzer Besitzer von acht Ziegen und einer Milchkuh. Auf seinen 2,5 Hektar Land hat er zudem den Anbau des traditionellen Teffs, einer sehr ertragsarmen Getreideform, um die Hälfte reduziert. Stattdessen baut er das ähnlich schmeckende Triticale (eine Roggen-Weizen-Kreuzung) an, das viermal mehr Ernteertrag bringt und extrem widerstandsfähig ist. "Der exzessive Teff-Anbau hat die Felder total ausgelaugt. Er ist zudem Hauptursache für die Bodenerosion. Deswegen versuchen wir, die Bauern davon zu überzeugen, diese Getreidesorte zu minimieren", sagt Meier zu Biesen.

Boru nimmt die Hilfen der CDSE inzwischen dankbar an. Es gehe ihm jetzt viel besser als früher, sagt er. Aber genug zum Leben hätten er und seine Familie immer noch nicht. Rund 600 Kilo Getreide erntet er pro Jahr. Davon ernährt er acht Menschen, die zusammen mit den Ziegen und Hühnern in seiner kleinen Hütte wohnen. "Ich bräuchte mindestens das Doppelte an Nahrung", sagt Boru und erzählt, dass sich die Familie ab April nur eine Mahlzeit pro Tag leisten könnte.

Seine Frau Baratu war bisher bei keinem Workshop. Schüchtern sitzt die 30-Jährige hinter dem Vorhang, der die fensterlose Rundhütte in Wohn- und Schlafbereich teilt. In diesem Haus hat eindeutig der Mann das Sagen. "Er hat mich vom Markt weggeholt und vergewaltigt, deswegen habe ich ihn geheiratet. Ich war 16, ich hatte keine Wahl", sagt sie offen. Um ihren Mund haben sich tiefe Linien eingegraben, mechanisch gibt sie ihrem jüngsten Sohn die Brust. Acht Kinder hat sie geboren, drei davon starben, bevor sie vier Jahre alt wurden. Die Ursachen dafür kennt Baratu nicht, ihre kranken Kinder haben nie einen Arzt gesehen. "Vielleicht die ständigen Durchfälle", sagt sie achselzuckend.

Ihr Los könnte härter nicht sein. Wer als Bauersfrau in Äthiopien geboren wird, muss 18 Stunden am Tag arbeiten. Während der Mann nur für das Beackern der Böden und das Ausbringen des Saatguts zuständig ist, verantwortet die Frau alles rund um den Haushalt. Das bedeutet: Kinder erziehen, Essen machen, Wäsche waschen, Wasser holen, das Vieh versorgen, zum Markt gehen und das Korn in einer Getreidemühle mahlen lassen. Dafür muss Baratu in das 15 Kilometer entfernte Städtchen Tulubolo laufen und dabei drei Flüsse durchqueren, in der Trockenzeit kein Problem, aber während der großen Regenzeit im Juli und August ist der Weg unpassierbar.

Dennoch, sagt Baratu, sei sie seit zwei Monaten sehr zufrieden. Denn nur ein paar Hundert Meter von ihrem Gehöft entfernt wurde vom Hamburger Verein Viva con Agua ein Brunnen gebaut - einer von insgesamt fünf. Seither muss Baratu nicht mehr eine Stunde lang zum Fluss laufen, um das Wasser zu holen. 75 Liter pro Tag transportiert sie auf ihrem Rücken. "Jetzt kann ich auch mal meine Kinder zum Wasser holen schicken." Mit dem sauberen Wasser seien die Durchfälle der Kinder verschwunden, erzählt sie.

Nur zwei ihrer Kinder gehen zur Schule, allerdings nicht regelmäßig, denn in der Regenzeit ist der Weg zu schlammig und in der Erntezeit im November und Dezember braucht Ehemann Boru jede helfende Hand.

Seine Kinder von der Schule fernzuhalten, käme für den Bauern Teshome (40) hingegen niemals in Frage. "Meine Kinder sollen alle einen Highschool-Abschluss machen. Bildung ist das Wichtigste für die Entwicklung des Landes", sagt der groß gewachsene Mann.

Er wohnt nur fünf Kilometer von Borus Gehöft entfernt, die beiden Bauern trennen Welten. Teshome hat die Schule bis zur 12. Klasse besucht und ist im Dorf Sodo für die Welthungerhilfe eine Art Vorzeigebauer. Auf seinem gepflegten Grund werden neue Getreidesorten angebaut, er hat Mango- und Avocadopflanzen und Enset im Garten. Enset ist eine ernährungssichernde Pflanze, die resistent gegen Dürre ist und deren zwiebelartige Frucht eine Familie eine Woche lang ernähren kann. "Alle Familien in Sodo sollen künftig so eine Pflanze für Notzeiten haben", erklärt Meier zu Biesen.

Geht Teshome durch das Dorf, grüßen alle ehrfurchtsvoll. "Teshome ist innovativ, intelligent und offen für alles Neue. Und im Dorf ist er der einflussreichste Mann", sagt der Entwicklungshelfer.

Deswegen ist Teshome auch im Entwicklungskomitee von Sodo. Das Komitee trifft sich alle 14 Tage und bestimmt gemeinsam mit CDSE-Mitarbeitern künftige Projekte. "Wir brauchen eine wetterfeste Straße nach Tulubolo und eine Brücke", sagt Teshome. Dem Komitee gehören drei Frauen und vier Männer an - der hohe Frauenanteil in den Gruppen ist von der Welthungerhilfe vorgegeben.

"Seither melden sich die Frauen viel häufiger zu Wort", sagt Teshomes Frau Denkesh. Die selbstbewusste 36-Jährige hat die Schule bis zur zehnten Klasse besucht. Die harte Arbeit hat auch sie geprägt. Ihr Gesicht wirkt verhärmt, neun Kinder hat sie geboren - und behalten. Denn sie weiß mehr über Krankheiten als andere Frauen, zudem hat sie ein Seminar über die Behandlung von Malaria besucht. Die Welthungerhilfe propagiert seit einigen Jahren die Verbreitung von Artemisia, einer Wermut-ähnlichen Pflanze, die Malaria sehr effektiv bekämpft. An allen Brunnen steht inzwischen so ein Artemisia-Strauch.

Die Wasserstelle ist zu einer Art Kommunikationszentrum für die Frauen geworden. Mit bunten Kanistern stellen sie sich in einer Reihe vor dem Brunnen auf, und die Luft ist erfüllt von ihren melodischen Stimmen. Ihre Esel warten brav an der Seite, die Kinder spielen mit einem aus Stoffresten gemachten Ball. Gerade kommt Denkesh an. Ihr sonst so ernstes Gesicht trägt ein Lächeln. Kleine Wunder gibt es auch in Äthiopien.