Heike Gätjen trifft jede Woche Menschen aus Hamburg. Heute Meinhard von Gerkan, Architekt

Sein Auftritt hat was! Bühnenreif und gekonnt inszeniert. Auf der hölzernen Rampe steht er, ganz in Schwarz, mit wehendem Haar, und hat alles im Blick. Vorne die Elbe, links sein Wohnhaus, rechts sein Bürogebäude, zu seinen Füßen das von Ali Güngörmüs geführte Restaurant LeCanard, das ihm auch gehört. Ein kleines Imperium an der Elbchaussee irgendwie. Nein, sagt er, so hoch möchte er das eigentlich nicht hängen. Der erfolgreiche Architekt Meinhard von Gerkan, der lieber klotzt als kleckert, wie er gesteht. Zusammen mit Volkwin Marg das weltweit erfolgreiche Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner gmp betreibt, national und international mehr als 250 vielfach preisgekrönte Projekte umsetzt und jetzt in China gerade eine ganze Stadt aus dem Boden stampft.

"Stampfen!", sagt er empört, "das Wort geht schon mal gar nicht." Das würde doch gleich wieder eine negative Einschätzung implizieren. Total daneben dieser Einstieg also? Nein, sagt der für seine Ruppigkeit bekannte Meinhard von Gerkan unerwartet milde, "da müssen Sie keine Hemmungen haben." Er sei nicht nachtragend. Aber trotzdem. Dieses Thema gehöre in Ruhe besprochen. Beim Essen hier auf der Terrasse vom LeCanard. Serviert werde nur drinnen, blockt der Kellner ab. Der Chef habe gesagt, das Wetter sei instabil. Ich mach ihm das gleich stabil, sagt Meinhard von Gerkan lachend.

Er ist ein aufgeräumter Gesprächspartner, wenn er denn Zeit hat. Der gerne mit großen Gesten erzählt. In Fahrt gerät, wenn es um die aktuelle Debatte über Moral und Ethik beim Bauen für nicht demokratische Regime geht, bei der er mit anderen großen Architekten in der Schusslinie liegt. Die er für absolut unsinnig hält. Und der sogar über sich selbst lachen kann, wenn er im Eifer des Gefechts maßlos übertreibt und dabei ertappt wird.

Womit fangen wir nun an? Was Sie wollen, sagt er. Solange das keiner Geheimhaltung unterliege. Die Sache mit dem Klotzen und Kleckern vielleicht. Das erste Projekt von gmp gleich der Neubau des Flughafens Tegel. Wäre eine Nummer kleiner nicht auch gegangen? Niemals, sagt er. Warmlaufen mit architektonischem "Kleinvieh" wie Garagen sei sinnlos. Und bringe nichts. Versande in der Bedeutungslosigkeit. Das habe sich selbst bei hervorragenden Studenten gezeigt. Außerdem sei ihm die Materie vertraut gewesen. Für seine Diplomarbeit habe er einen Flughafen in Hannover entworfen. Die fehlende Routine hätten sie durch Nachtarbeit ersetzt, tja, und dann sei es eben abgegangen.

Rasant. Von Europa aus über Iran nach Tokio, Dubai und jetzt vor allem in China. Seine Visitenkarte ist halb deutsch, halb mandarin. Die Sprache spricht er nicht und kann sie schon gar nicht lesen. Dafür habe er seit Langem Herrn Wu, der zu abrupt wirkende deutsche Aussagen "chinoisiert", allzu vage chinesische Aussagen wie "das muss noch überlegt werden" in ein klares "Nein" übersetzt. Diese endlosen Verhandlungen überhaupt. Mit nachfolgenden mindestens 14-gängigen Menüs. Langnasen immer Ehrengäste. Seeteufel, Abalone, Haifischflossen. Grauslich glitschig. Ablehnen gelte als unhöflich. Aber er habe da einen Trick. Verwickle seine Tischnachbarn in intensive Gespräche und dann, schwupp, sei der nächste Gang dran. Seine Dr. h. c. mult. stammen - bis auf den von der Theologischen Fakultät der Uni Marburg wegen seines Christus-Pavillons auf der Expo 2000 - aus der Zeit, als er Vorlesungen hielt. In Taiwan, Tokio, Südafrika, Peking und viele Jahre in Deutschland.

Früher. Sollte er etwa schwächeln? Aber nein, sagt er, jetzt starte er erst richtig wieder durch. Mit seiner Hamburger Akademie für Architektur, in der Volkwin Marg und er je eine Klasse haben werden. Mit 32 Studenten. 16 aus Deutschland, 16 aus Asien. Ein Aufbaustudium. Und - Ironie der Geschichte - mitfinanziert durch ein paar Millionen von der Deutschen Bahn. Dem Prozessgegner um Urheberrechte am Lehrter Bahnhof. Meinhard von Gerkan holt tief Luft. Da gäbe es Dinge! Er setzt an zu ein paar knackigen Sätzen, die der Wind netterweise verschluckt.

Zurück lieber zu ihm. Seiner Jugend. Elternlos wächst er auf, geprägt von einem Leben ohne Leitfigur, ohne sicheren familiären Rückhalt und finanziellem Mangel. Bis zum 16. Lebensjahr lebt er in vier verschiedenen Pflegefamilien, besucht zwölf Schulen auf all den Zwischenstationen der Übersiedlung von Lettland nach Polen und später der Flucht nach Niedersachsen. Das Abitur auf dem Abendgymnasium schafft er im zweiten Anlauf, "beim Heiligengeistfeld, wo heute die Kirche wie auf einer Insel steht". Weil die Waisenrente nicht reicht, geht er jobben. Bei einer Versicherung am Ballindamm. Schrecklich! Im Studio Wandsbek als Komparse im "Hauptmann von Köpenick". Als Beleuchter im Theater am Besenbinderhof, bis ihm "Die Gräfin Mariza" zu den Ohren rauskommt. Und im Theater im Zimmer bei Gerda Gmelin. Er beginnt Physik am Europa-Kolleg zu studieren, lässt sich von Otto Schily überreden, es mit Jura zu versuchen. Alles nichts. Er nimmt sich selbst ins Gebet, wie er sagt. Besinnt sich auf sein Gespür für Proportionen, Ästhetik, Materialien, geht nach Berlin, um Architektur zu studieren. Dort an der TU lernt er Volkwin Marg kennen, den Pastorensohn in der groß karierten Jacke aus einem US-Carepaket. Von da an ziehen sie alles gemeinsam durch. Die TU Braunschweig, die wilden Partys in einem Abbruchhaus am Stadtrand, die Assistentenzeit, das erste Ein-Zimmer-Büro am Klosterstern. 2005 bekommen sie als erstes Duo den Großen Preis des Bundes Deutscher Architekten für ihr gemeinsames Lebenswerk.

Die Sonne ist längst untergegangen. Kalt wird es auf der Terrasse. Und zum Essen sind wir auch noch nicht gekommen. Wie auch, sagt Meinhard von Gerkan, wenn er immer erzählen müsse. Und von einer Anekdote in die nächste falle. Wie die damals im Schahpalast in Teheran, mit dem überdimensionalen Modell der Nationalbibliothek im Gepäck, als dafür die kaiserlichen Türen ausgehängt werden mussten.

Wir gehen dann doch rein. Meinhard von Gerkan verhandelt mit Ali Güngörmüs noch schnell über ein Vorwort zu dessen Kochbuch. Ja, wird er machen. Morgen auf dem Weg nach Berlin zum Treffen mit Bauminister Tiefensee und dem vietnamesischen Bauminister. Er lässt sich zu einem Weißwein von der Nahe überreden. Aus Monzingen, kennen Sie den? Nein? Macht nichts, sagt er, ihm schmeckt er. Erzählt von seinem Weinberg hier vor der Haustür. Das Geschenk eines Winzers. Dreistöckig angepflanzt. Beste Südhanglage, sagt er lachend. Noch ohne Ergebnis.

Bis kurz vor Mitternacht haken wir alles ab. Dass er ein autoritärer Vater sei. Ja, schon. Bei allen sechsen. Aus zwei Ehen. Dass er manchmal darunter leide, keine Chance mehr zu bekommen, sich auch einzubringen, weil die Jüngsten zu sehr auf die Mutter fixiert sind. Der Preis für sein Ausklinken aus dem familiären Bereich. Aber am Wochenende geht's nach Mallorca. Familienferien. Dafür hat er sogar die Reise nach Peking abgesagt.

Über den Kick reden wir noch. Sich als Schöpfer zu fühlen. Eine ganze Stadt neu zu erschaffen! Na, sagt er, da wollen wir doch mal auf dem Boden bleiben. Die Stadt Lingang nahe Shanghai, gebaut für den 32 Kilometer vor der Küste liegenden neu geschaffenen Hafen, sei Traum und Trauma zugleich. Ein Traum, "wegen der elementaren sozialen Herausforderung, den Raum zu schaffen, der es ermöglicht, unter humanen Bedingungen leben und arbeiten zu können", sagt er mit erhobenem Zeigefinger. Und dieses Dauertrauma im Nacken, dass Prognosen und Erwartungen an der Realität vorbeigeplant sein könnten. Oder willkürliche Eingriffe alles gefährden könnten. Aber das habe er in China nur sehr selten erlebt. Eigentlich gar nicht, sagt er nach kurzem Nachdenken. Er sei dort geschätzt. Mehr als hier, habe er so das Gefühl. Allein schon wegen seiner Größe, klar. 1,90, geschrumpft auf 1,89; seinen weißen Haaren, die Alter und Weisheit symbolisieren. Der Respekt gegenüber Leistung, Erfahrung und Glaubwürdigkeit. Das alles hätte schon was fürs Ego.

Von Albträumen reden wir noch. Seinem nächtlichen Fight mit Kampfhunden unlängst, aus dem ihn seine Frau wecken musste. Und von seinem einen großen Traum. Einer Wüstenwanderung durch die Sahara. Von Tamanrasset aus. Oder wie auch immer. Sein ältester Sohn Arved will es demnächst machen. Ihm selber würden einfach die biologischen Voraussetzungen fehlen. Ach, sagt er, forget it. Und macht sich langsam auf. In sein Bett, gleich nebenan.