Nobelpreisträger Eric Kandel ist einer der bedeutendsten Hirnforscher unserer Zeit. Ein mitreißender Dokumentarfilm erzählt das Leben des 1929 in Wien geborenen Amerikaners.

Der Herr im Mantel läuft federnd über die Straße und spricht eine Frau an. Eine Einheimische, eine Wienerin. Sie lebt im Stadtteil Währing. In dem Haus, in der der fremde Herr vor über 70 Jahren gelebt hat. Er musste damals flüchten aus Wien, er ist Jude. Er fuhr mit dem Schiff nach New York und wurde Amerikaner. Aber jetzt spricht er die Frau auf Wienerisch an und fragt, wo die Severingasse sei. "Sie wohnt da, in meinem Haus", ruft er seiner Frau, seinem Sohn und der Filmemacherin zu, die ihn auf der Reise in die Vergangenheit begleiten. Er steht auf dem Bürgersteig und deutet auf ein Haus, die Bäckerei Ritz. Die habe es damals auch schon gegeben, der Bäcker sei ein berühmter Nazi gewesen.

Am 7. November 1938 klopft es bei Hermann Kandel an der Tür. Der Hausherr ist noch in seinem Geschäft, nur die Ehefrau und die zwei Söhne sind da. Es ist früher Abend, lautes Hämmern an der Wohnungstür schreckt die Familie auf. Zwei Männer treten ein, weisen sich als Gestapomänner aus und befehlen, nur ein paar Sachen zusammenzupacken und die Wohnung zu verlassen. Hermann Kandel wird etliche Tage von der Gestapo gefangen gehalten, die Wohnung ausgeräumt. Auch das blaue Modellauto des kleinen Eric verschwindet. Das Auto, von dem der heute 79-Jährige, der jetzt in der Wohnung von damals steht, noch genau weiß, wie er es zwischen den Stuhlbeinen des Esszimmertisches hindurchsteuerte.

Schnitt, Szenenwechsel: Der alte Herr mit der dicken Hornbrille, dem zurückgekämmten grauen Haar und der Fliege um den Hals, der ein wenig aussieht wie Woody Allen und eben noch durch Wien flanierte, steht mit einem Filzstift vor einer Tafel und erklärt die neurobiologischen Zusammenhänge des Gedächtnisses. "Das Speichern von Erinnerungen ist ein komplexer Vorgang, der Hippocampus spielt eine zentrale Rolle", sagt er. Auch ein blaues Spielzeugauto kann, ausgehend von einem visuellen Signal, an die Zellen im Hippocampus geschickt werden und von dort aus durch Neurotransmitter Synapsen aktivieren. Eric R. Kandel zählt zu den weltweit führenden Neurowissenschaftlern, ihm wurde im Jahr 2000 der Nobelpreis für Medizin zuerkannt. Er ist ein Pionier der Gedächtnisforschung und galt als derjenige, der die zwei Welten der Psychologie und der Neurologie zusammenbrachte. Wie funktioniert ein Gedächtnis, wie werden Erinnerungen abgespeichert?

In einer schicksalhaften Verdichtung spiegelt das Forscherleben Kandels seine problematische Herkunft und traumatische Kindheit. Er sei davon überzeugt, sagt Eric Kandel an einer Stelle der wunderbaren Dokumentation der Filmemacherin Petra Seeger, die bereits sehr erfolgreich in den US-Kinos gezeigt wurde und am 25.6. in Hamburg startet, dass sein "späteres Faible für den menschlichen Geist - dafür, wie sich Menschen verhalten, wie unberechenbar ihre Motive und wie dauerhaft ihre Erinnerungen sind - auf mein letztes Jahr in Wien zurückgeht".

Die Heraufkunft des Nationalsozialismus, der "Anschluss" Österreichs einerseits und die Ankunft in New York andererseits waren der Wendepunkt im Leben Kandels. Mit dem erzwungenen Umzug nach Amerika begann ein Leben, das einem Traum gleicht: Der Einwanderer aus dem kriegsversehrten Europa wurde zum Musterschüler. Nach der High School in Brooklyn bekam er ein Stipendium für Harvard, studierte zunächst Österreichische Literatur, später auf der New York University Psychiatrie. Der Mann aus dem Land Sigmund Freuds interessierte sich aber eher, das war damals en vogue, für die biologischen Vorgänge im Gehirn.

Er forscht mit Meeresschnecken, er sucht das Gedächtnis und findet die Kurzzeit- und Langzeiterinnerungen. Der Film "Auf der Suche nach dem Gedächtnis" (so lautete auch der Titel von Kandels Autobiografie) erzählt auch ein Stück Wissenschaftsgeschichte, vor allem berichtet er aber vom dramatischen Leben Kandels. Jetzt, im Herbst seines Lebens, hält sich Kandel, der einst Davongejagte, wieder oft in Europa auf. In seiner ehemaligen Heimat Österreich wird er mit Ehrungen überhäuft. Zu einer begleitet ihn die renommierte Regisseurin und Produzentin Seeger. Aber es sind ganz andere Bilder, die in Erinnerung bleiben: Wenn der "Rockstar der Gehirnforschung", der charmant, charismatisch und topfit ist, seiner eigenen Erinnerung hinterherreist und die Stätten seiner Kindheit besucht. In einer Einstellung steht er vor der Hofburg und blickt auf den Heldenplatz. Dort, wo Adolf Hitler 1938 triumphal empfangen wurde. Im Gegenschnitt sieht man die Bilder von einst, die emporgereckten Arme, die dem "Führer" seinen Gruß entbieten. Eine schwar-zweiße Erinnerung, die manche derer, die damals noch nicht lebten, im Kopf haben, weil die medial verbreitete Historie ins kollektive Gedächtnis übergegangen ist. Kandel, der Gedächtniswissenschaftler, saß damals mit seinem Bruder vorm Radio, er zitiert den Gesang auf Deutsch: "Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen." Dann schüttelt er verzweifelt den Kopf.

Wenn man etwas nicht vergisst, weil es einen zu dem macht, der man ist: Davon erzählt "Auf der Suche nach dem Gedächtnis". Das Gedächtnis verleiht dem Leben Kontinuität und liefert ein zusammenhängendes Bild des eigenen Lebens. Sein Leben lang hat Kandel die biochemische Formel der Erinnerung gejagt. Als alter Mann fährt der US-amerikanische Forscher nun durch die Straßen des barocken Wien und sagt: "Ich find's wunderbar, wie der Kreis sich schließt."

Er wird zusammengehalten von Synapsen, die sein Leben erzählen.