Von Kirchenmusik bis Pop und Musical - was Hamburgs Musikgeschichte so einzigartig macht, erzählt Abendblatt-Redakteur Joachim Mischke in seinem neuen Buch. Wir veröffentlichen Auszüge in einer Serie. Heute: Was Georg Philipp Telemann in einem halben Jahrhundert in Hamburg bewirkte.

Home is where the heart is", heißt es. Die Wiege von Georg Philipp Telemann stand in Magdeburg; im Lauf seiner Karriere machte er unter anderem in Leipzig, Sorau, Eisenach und Frankfurt am Main Station. Doch verwurzelt und heimisch wurde der 1681 geborene Komponist und Kapellmeister erst später: in Hamburg. Dort blieb er fast ein halbes Jahrhundert, dort starb er 1767.

1720 schrieb Telemann in Frankfurt seine komische Oper "Der geduldige Socrates", deren Premiere im Jahr darauf in Hamburg unter seiner Leitung stattfand. Sie avancierte schnell zum Publikumsliebling. Die ersten vielversprechenden Kontakte zur Hansestadt waren somit geknüpft.

Der Zufall half dabei, dass die Würfel noch schneller zugunsten des Musikdirektors der Frankfurter Barfüßerkirche fielen. Im April 1721 starb Joachim Gerstenbüttel, "Director musices" der fünf Hamburger Hauptkirchen und Kantor am Johanneum, das damals etwa dort stand, wo sich heute das Rathaus befindet. Ein Nachfolger musste schleunigst her, denn die Pflichten für den Musikdirektor und Kantor in Personalunion waren immens. Bereits drei Monate später wurde Georg Philipp Telemann vom Rat der Stadt für das Amt bestimmt, angeblich ohne sich beworben zu haben. Man war's zufrieden, denn Telemann galt unter Kennern als allererste Wahl.

Im Laufe seiner Hamburger Dienstjahrzehnte entstanden 46 Passionen, von denen gerade mal die Hälfte dokumentiert ist, sowie Passions-Oratorien, zu denen Telemann mitunter selbst die Texte verfasst hatte. Neben diesen Pflichten engagierte er sich auch für Konzerte mit einem "Collegium musicum", mit dem er eine Idee seines Vorgängers Matthias Weckmann aufgriff und ab dem Winter 1721 auftrat.

Der Start ins neue Amt war angenehm, die ersten Monate waren es nicht. Reibereien mit den Hamburger Autoritäten über Kleinigkeiten, wie das Recht am Druck seiner eigenen Textbücher, vergällten Telemann die neue Heimat. Indem er dem Rat der Stadt mit seinem Weggang nach Leipzig drohte, wo nach Johann Kuhnaus Tod die Stelle des Thomaskantors frei geworden war, ließ sich Telemann auf einen Postenpoker ein. Er setzte auf den Imageverlust, der dem stolzen Hamburg durch den Weggang eines so renommierten Mannes blühen würde, den man doch gerade erst engagiert hatte. Telemann hatte für dieses Spiel die besseren Karten und Nerven. Der Rat beschloss, "daß man diesen berühmten Musicus, dessen Kirchen-Music der Stadt ewig Ehre macht, auf alle mögliche Weise" bei Laune und in den Stadtmauern halten wolle. Telemann wurde ein höheres Gehalt und eine größere Dienstwohnung zugestanden. Sieg auf der ganzen Linie.

Telemann, der die Gänsemarkt-Oper von 1722 bis zu ihrer Schließung leitete und sie mit etwa zwanzig Bühnenwerken belieferte, gehörte eindeutig zu den Besserverdienenden - die Zusatzeinnahmen zum normalen Gehalt waren mehr als Kleingeld. Seine Einkünfte entsprachen nach den zu seinen Gunsten durchgestandenen Querelen ungefähr dem Gehalt eines Bürgermeisters. Allerdings musste er für dafür als Universal-Tonsetzer und Organisator von Musikveranstaltungen auch hart und unentwegt arbeiten. Er lieferte Musiken für die Petri- und Matthiae-Mahlzeiten, für gewonnene Schlachten, "Hamburger Ebb' und Fluth" zur Hundertjahrfeier der Admiralität und "Kapitänsmusiken" für die jährlichen Festmahle der Bürgerwachen-Offiziere.

Offensichtlich konnte Telemann aus allem und fast jedem Inspiration für seine Fleißarbeiten schöpfen. Er schrieb, "daß mich die Noten bisher fast so bald gesuchet, als ich mich nach ihnen umgesehen". In den acht Sätzen einer kleinen, feinen Ouvertüre vertonte der Zugezogene mit plastischer Anschaulichkeit Hamburger Impressionen: das Salutschießen, die Wasserpartien in "Das Alster Echo", "Die Hamburgischen Glockenspiele", "Der Schwanen Gesang", "Der Alster Schäfer Dorff Music" und sogar "Die concertierenden Frösche und Krähen". 1737 gönnte sich Telemann den durchaus ernst gemeinten musikalischen Scherz einer "Cantate oder Trauer-Music eines kunsterfahrenen Canarien-Vogels, als derselbe zum größten Leidwesen seines Herrn Possessoris verstorben".

Telemann war tonangebend im Musikleben der Hansestadt, seine Beliebtheit wuchs kontinuierlich. Mattheson, der ihm in seinen Rezensionen mitunter streng auf die komponierenden Finger sah, dichtete verzückt: "Ein Lully wird gerühmt, Corelli lässt sich loben, Nur Telemann allein ist übers Lob erhoben." Die Begeisterung über Telemanns eingängige Melodien war so groß, dass allein die "Admiralitätsmusik" ab 1723 vierzehn Konzert-Aufführungen erlebte. Nicht allein in Hamburg, selbst in Paris, wo man ansonsten wenig übrig hatte für die als ungalant denunzierte Musik der rechtsrheinischen Nachbarn, war Telemann sehr en vogue. 1737 kam der Hamburger an der Seine an und blieb bei seinem einzigen großen Auslandsaufenthalt acht Monate. Über die "Nouveaux Quatuors" berichtete er später stolz: "Sie machten die Ohren des Hofes und der Stadt ungewöhnlich aufmercksam, und erwarben mir, in kurtzer Zeit, eine fast allgemeine Ehre, welche mit gehäuffter Höflichkeit begleitet war."

In fortgeschrittenem Alter entdeckte Telemann neben der Pflicht des Tonsetzens die stilleren Freuden der Gartenpflege. In einem Brief beschrieb er 1742 seine "Unersättlichkeit in Hyacinthen und Tulpen, meinen Geiz nach Ranunkeln und besonders Anemonen und meine Begierde nach den mehresten Zwiebelgewächsen". Telemanns Faible für schöne Pflanzen, seinerzeit ein beliebtes Freizeitvergnügen, ließ ihn sogar Komponistenkollegen anschreiben, ob sie ihm nicht Pflanzen schicken könnten. Händel antwortete 1750 aus London auf einen solchen Bittbrief: "Wenn die Liebhaberei für exotische Pflanzen und dergl. Ihre Tage verlängern und die Ihnen eigene Lebhaftigkeit verjüngen könnte, so biete ich Ihnen mit aufrichtiger Freude an, etwas dazu beizutragen. Ich mache Ihnen dann ein Geschenk und sende Ihnen eine Kiste mit Blumen (. . .); wenn man mir die Wahrheit sagt, so werden Sie die besten Pflanzen von ganz England erhalten."

Die Jahre vergingen, Telemann schrieb und schrieb und blieb in Hamburg. Da Händel in England wirkte und herrschte, war Telemann der berühmteste Komponist im deutschsprachigen Raum. Er hatte das biblische Alter von 74 Jahren erreicht, als sein Passionsoratorium "Der Tod Jesu" 1755 im Drillhaus uraufgeführt wurde, sein erstes großes Spätwerk. Unter mangelnder Kreativität oder fehlendem Publikumszuspruch litt er nach wie vor nicht. Seine "Donner-Ode", die er 1756 als Reaktion auf das verheerende Erdbeben von Lissabon komponierte und in der er die Offenbarung Gottes mit Pauken und eindrucksvollen Chorsätzen rühmte, erlebte 13 Wiederholungen. 1762 lieferte er zur feierlichen Einweihung des Michaeliskirchen-Neubaus die Festmusik "Komm wieder, Herr, zu der Menge der Tausenden in Israel". Allmählich forderte das Alter doch seinen Tribut. Telemanns Hände zitterten, die Beine wollten nicht mehr so recht, auch die Augen versagten ihm den Dienst. Es gibt einen Vermerk des über seine "Baufälligkeit" Klagenden auf einer Partitur: "Von mir, Telemann, 19. November 1760, meistens des Nachts, bei blöden Augen geschrieben."

Sein letztes Werk ist eine Markus-Passion, 1767 mit fremder Hilfe vollendet. Am 25. Juni 1767 starb Georg Philipp Telemann im Alter von 86 Jahren, als Todesursache wurde eine "Brustkrankheit" angegeben. Der Komponist Johann Heinrich Rolle schrieb nach Telemanns Tod betrübt: "Wie viele Jahre wäre vielleicht die Music in Deutschland nicht noch elend und erbärmlich geblieben, wenn kein Telemann aufgestanden, der durch sein göttliches Genie und durch seinen großen Fleiß die Music aus der Finsterniß herausgezogen, und ihr einen ganz andern und neuern Schwung gegeben?"

Komponiert hat dieser Unermüdliche im Laufe seines langen Lebens mehr als 3600 Werke: rund 50 Opern, Oratorien, 46 Passionen, Messen und Psalmen, 1400 Kirchenkantaten, 70 weltliche Kantaten, 40 "Kapitänsmusiken", Lieder, Oden und Kanons, um die 1000 Orchestersuiten und mehr als 100 Solo-Konzerte für verschiedene Instrumente, dazu noch Kammer-, Klavier- und Orgelmusik. Ein Großteil dieses geradezu furchterregend hohen Notenbergs ist verschollen. Bach und Händel, bekanntlich auch keine Sonntagsarbeiter, kommen gemeinsam nur auf die Hälfte dieses riesigen Oeuvres. Genau dieser Fleiß wurde Telemanns Ruf postum zum Verhängnis. Folgende Generationen steigerten sich in einen wahren Mäkelrausch hinein. Im 19. Jahrhundert wurde Johann Sebastian Bach zum Maß aller barocken Dinge, über die Zeitgenossen rümpfte man die Nase. Abgeschriebene Pauschalurteile ersetzten bei vielen Wissenschaftlern das eigene Denken. Der Meinungsumschwung hat gerade erst begonnen. Anlässlich einer konzertanten Aufführung von Telemanns "Socrates" im Sommer 2007 forderte der Alte-Musik-Spezialist Rene Jacobs ein Telemann-Festival für Hamburg. Mit feiner Ironie merkte er an, eine Kulturstadt wie Venedig gehe sehr schlecht mit Claudio Monteverdi um, und Hamburg sei "das Venedig des Nordens". Findet man hier sichtbare Ehrungen, abgesehen von der Telemannstraße in Eimsbüttel? Fehlanzeige. Es gab offenbar im späten 18. Jahrhundert ein Telemann-Denkmal im Horner Park. In einem Gartenkalender wird es 1783 erwähnt, 13 Jahre später nicht mehr.

Und ansonsten, außer einer kleinen Tafel im Michel, neben denen für Carl Philipp Emanuel Bach und Johannes Brahms? An einem seiner Häuser in der Peterstraße hat der Hamburger Mäzen Alfred C. Toepfer eine Gedenktafel anbringen lassen, um das Gebäude - gut gemeint, aber gänzlich frei von historischen Bezügen - Telemann zu widmen.

Wer genau hinsieht und nicht in Augenhöhe sucht, findet links neben dem Rathausportal eine Gedenkplatte im Boden, umgeben von vier Miniatur-Pollern. Sie erinnert an den Komponisten, der dort auf dem Johanneum-Friedhof beigesetzt wurde. Allerdings hat sich der Graveur an entscheidender Stelle verhauen und den Fehler zu spät bemerkt: Die letzte Ziffer im Todesjahr wurde - gut sichtbar - nachträglich von 9 auf 7 korrigiert. Wer daraus folgern möchte, die Stadt lasse das Andenken Georg Philipp Telemanns links liegen oder trete es mit Füßen, liegt wohl nicht ganz falsch.


Nächsten Sonnabend: Musicals.

"Hamburg Musik!" von Joachim Mischke (399 S., 22 Euro) ist bei Hoffmann und Campe erschienen und erhältlich im Abendblatt-Center.

Das Buch wird am 17. März um 19.30 Uhr im Abendblatt-Center, Caffamacherreihe 1, präsentiert, u. a. mit Generalintendant Christoph Lieben-Seutter und Claus Spahn ("Die Zeit"). Eintritt frei, Anmeldung Tel. 68 25 25.