Ein Gespräch über Werte, über Egoismus, über die Probleme der Deutschen mit der nationalen Identität und über die Gier in der Wirtschaft. Das klingt nach der Predigt eines Moralisten, doch Wickert will die Übel benennen, damit sie beseitigt werden können.

Abendblatt: Herr Wickert, Sie wohnen in Eppendorf. Sind unter den Problemen, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, welche, die Sie betreffen?

Ulrich Wickert: Es gibt auch in Eppendorf Dinge, die einem auffallen. Ich nehme auch bei den Leuten in Eppendorf a) immer wieder einen großen Egoismus wahr, und b) brauchen Sie nur auf die Straßen zu gehen und sehen, wie manche Leute hier durchrasen. Wenn jemand einparkt, hält keiner - da wird drauflosgehupt.

Und das hat zu diesem Buch geführt?

Wickert: Irgendetwas beginnt einen zu irritieren, dann sammelt man Themen. Man liest etwas in der Zeitung, sieht etwas - Dinge, die sympto-matisch sind. Ich habe viele Diskussionen geführt in verschiedenen Ecken der Republik, die immer wieder auf Themen gekommen sind, die mit dem Untertitel beschrieben sind: "Von der Sehnsucht nach verlässlichen Werten". Wenn diese Leute sich so viele Gedanken darüber machen, ist das ein Thema.

Wenn man hineinliest, kann man auf die Idee kommen, es sei ein großes Lamento über den Verfall unserer Werte.

Wickert: Es ist kein Lamento, sondern eine Zustandsanalyse. Heute werden in der Bundesrepublik viele Fragen gestellt, weil uns bewusst wird, dass wir ein Einwanderungsland sind, was ja lange geleugnet wurde. Da stellen sich viele Menschen Fragen nach unserer Identität. Das ist richtig, denn aus der nationalen Identität ergeben sich die Werte unserer Gesellschaft.

Welche Werte meinen Sie?

Wickert: Aus der Menschenwürde folgen die drei republikanischen Werte der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aus ihnen entwickeln sich dann ganz viele andere: Es gibt keine Freiheit ohne Sicherheit, keine Freiheit ohne Toleranz. Die Frage der Verantwortung ist wichtig, denn ohne Verantwortung gibt es keine Gerechtigkeit.

Sie spannen Ihr Missstände-Radar ganz weit auf - vom Nicht-Grüßen bis zur Terrorangst, vom Markenterror an Schulen bis zum Verhältnis zur Nationalhymne... Was ist Ihnen das Wichtigste?

Wickert: Interessanterweise hängt das alles zusammen. Die Menschenwürde ist das Allerwichtigste.

Ist die denn bei uns bedroht?

Wickert: Nein. Sie ist ja auch als erster Satz im Grundgesetz festgeschrieben.

Bedroht im praktischen Umgang vielleicht?

Wickert: Nein. Nichts ist wirklich bedroht. Aber wenn die Menschenwürde weiter Bestand haben soll, müssen wir fragen: Wie gehen die Menschen in einer Gemeinschaft miteinander um? Und da geht es um die sogenannten bürgerlichen Tugenden. Die werden offenbar in weiten Kreisen als fragwürdig betrachtet, nach dem Motto: "Manche SS-Männer waren ja auch höflich." Soll man deswegen aber die Höflichkeit und Pünktlichkeit beiseitetun? Nein, denn in ihnen zeigt sich vor allem der Respekt, den man dem anderen erweist.

Es wurde ja lange Zeit gefeiert, dass sich die 68er-Bewegung endlich frei gemacht hatte von der Höflichkeit, die davor wohl oft als Zwang empfunden wurde.

Wickert: In den 70er-Jahren ist das eine verstärkte Reaktion gewesen auf alles Reaktionäre und Autoritäre, das man in den 50ern und 60ern gespürt hatte und dann einfach in den Zusammenhang mit dem "Dritten Reich" gestellt hat. Ich sagte damals auch: Wir sind jetzt ganz anders, wir benehmen uns nicht mehr wie das Establishment.

Wurde damals das Kind mit dem Bade ausgeschüttet?

Wickert: Es war eine wichtige Neuorientierung. Man muss manchmal Dinge infrage stellen, um sie neu begründen zu können. Es war eine wichtige Zeit für uns.

Aber wächst heute nicht in weiten Kreisen eine Generation heran, die keinen Kontakt mehr bekommt zu bürgerlichen Werten, die meint, frei von jeglichen Werten leben zu können?

Wickert: Ja. Sie werden kaum noch unterrichtet und auch von den Eltern nicht mehr vermittelt. Bisher dachte ich, in bürgerlichen Familien wird das ja alles noch in Ordnung sein. Und dann erzählt mir ein intellektueller Hamburger, sehr wohlhabend, dass sein Sohn, 15 oder 16 Jahre alt, Freunde einlädt zu einer Fete. Und als die Eltern nach Hause kommen, ist das Wohnzimmer vollständig zerlegt und verwüstet. Auch da gibt es offenbar gar keine Schranken. Woher kommt diese Schrankenlosigkeit?

Sie fordern zur Abhilfe viele Bausteinchen: Schulkleidung, Abkehr vom Laissez-faire und Eingreifen der Ewachsenen, Stärken des Gemeinschafts-gefühls... Bisher sind es eher kleine Teelichter, die dafür brennen.

Wickert: So muss das auch anfangen. Nehmen Sie die Sinstorfer Lehrerin Karin Brose. Sie hat an ihrer Schule die Schulkleidung durchgesetzt. Heute ist das eine Musterschule, an der sich andere im ganzen Bundesgebiet orientieren. Sie hat nicht nur gejammert, sondern etwas angepackt. Und jetzt kommen viele Eltern auch von weiter her und wollen ihr Kind auf diese Schule bringen. Da sehen Sie, was ein kleines Teelicht bewirken kann.

Sie wollen aber ja mehr Verantwortungsbewusstsein, Disziplin, Wir-Gefühl für die ganze Gesellschaft. Wie soll das gehen? Mit Flaggenappell zum Schulbeginn?

Wickert: Jeder Einzelne ist verantwortlich dafür, wie sich unser Zusammenleben gestaltet. Und jeder, egal, wo er lebt und arbeitet, kann etwas dafür tun. Ich will meinen Lesern zeigen, wo sie nachdenken können. Ich habe eine Meinung, die sage ich auch. Und wenn ich sage, aus der nationalen Identität entwickeln sich unsere Werte, dann müssen wir fragen: Was macht diese Identität aus? Da müssen wir Tabus abbauen. Es gibt ja in Deutschland immer wieder Leute, die den Begriff "nationale Identität" ablehnen.

Laufen Sie da nicht gerade munter pfeifend auf ein Minenfeld?

Wickert: Komisch, dass es in Deutschland ein Minenfeld ist. In Frankreich sprechen alle Kandidaten um die Präsidentschaft von "nationaler Identität", ohne dass das schrecklich wäre. Bei uns lehnen es Leute ab, dass das "Dritte Reich", der Zweite Weltkrieg, die Judenvernichtung und Auschwitz Teil unserer Iden-tität seien. Sie sind es aber. Man kann nicht einfach sagen: Es gibt keine nationale Identität, und damit sind diese Dinge weg. Wir müssen uns mit ihnen beschäftigen und gleichzeitig akzeptieren, dass es eine nationale Identität gibt.

Die nationale Identität wiederfinden - haben Sie keine Angst, mit dieser Forderung vom rechten politischen Spektrum vereinnahmt zu werden? Das T-Shirt, getragen mit dem Satz: "Ich bin stolz, Deutscher zu sein", wird schließlich am häufigsten dort getragen.

Wickert: Wir dürfen den Rechten das nicht überlassen. Auschwitz verpflichtet gerade uns, uns einzusetzen für die humane Gesellschaft.

Wie wollen Sie das alles zusammenbringen - Schulprobleme, Disziplinschwierigkeiten, gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit und nationale Identität?

Wickert: Wir müssen erkennen, dass wir eine Gemeinschaft sind, und wir müssen in dieser Gemeinschaft wieder ein Zusammenleben entwickeln, das uns zufrieden macht. Wir müssen es schaffen, dass sich mehr Leute als bisher nach den gültigen Werten der Gesellschaft auch tatsächlich richten. Deswegen heißt das Buch ja auch "Gauner muss man Gauner nennen". Wir müssen uns künftig trauen zu sagen: Ich habe dich bei einem Regelverstoß erwischt, verhalte dich in Zukunft anders. Wir müssen es aussprechen, damit es sich ändern kann.

Es gibt ja viele Ursachen für kleine, aber auch für große Gaunereien. Oft werden sie mit wirtschaftlichen Zwängen begründet.

Wickert: Und ich sage: Wir denken falsch. Wir benutzen das ökonomische Denken als Alibi, was ich sehr kritisiere. Da heißt es: Es müssen 10000 Leute entlassen werden, dann geht es der Firma und dem Aktienkurs besser. Oder: Wir müssen diese Firma schließen, die macht zwar 12 Prozent Gewinn, es müssen aber leider 18 Prozent sein.

Glauben Sie wirklich, dass sich Wirtschaftsführer durch das Anmahnen von Ethik dazu bringen lassen, Rendite-Erwartungen zu senken, weil sie dann ethischer handeln?

Wickert: Ja. Im eigentümergeführten mittelständischen Betrieb, da finden Sie tatsächlich ethische Überlegungen und nicht nur überzogenes Renditedenken.

Klingt so, als müssten wir zum ersten Mal sagen: Sowohl wirtschaftlich wie im Umgang miteinander funktioniert das "Weiter so" nicht mehr, sondern wir müssen zurückrudern.

Wickert: Das stimmt, wenn "Weiter so" heißt: Gier, Gier, Gier. Wir müssen die Gier zurückschneiden. Ich finde den Fall Esser/Mannesmann so interessant, weil er zum Höhepunkt der Gier-Zeit stattfand. Er wurde freigesprochen, dann ging's zum Bundesgerichtshof - und da hat es ein Richter ausgesprochen: Die haben sich wie Gauner benommen. Das hat dazu geführt, dass Esser dann irgendwann mal gesagt hat, eine solche Millionen-Zahlung wäre heute nicht mehr möglich wegen der öffentlichen Aufregung. Der Höhepunkt der Gier-Zeit ist überschritten.

Sie haben sich mit Büchern wie "Der Ehrliche ist der Dumme" in die Rolle des Moralisten geschrieben...

Wickert: Ich bin kein Moralist, ich bin Journalist, der die Gesellschaft analysiert und sich die Frage stellt: Wie wirksam sind ihre Regeln?

...und Sie werden dafür regelmäßig auch bespöttelt und angegriffen.

Wickert: So ist das, wenn man Stellung bezieht. Damit muss man leben.