Wie schreibt man historische Hamburg-Romane? Petra Oelker und Maiken Nielsen wühlen in Archiven, testen Fußwege und sogar Korsetts. Irene Jung traf sie zum Werkstattgespräch.

JOURNAL: Was ist reizvoll daran, einen Hamburg-Roman ins 18. Jahrhundert zu verlegen?

PETRA OELKER: Das war eine soziale, politische und kulturelle Umbruchszeit. Zum Beispiel durch die neuen Ideen der Aufklärer, die in der Stadt wirkten.

MAIKEN NIELSEN: Ich hatte mir diese Zeit ausgesucht, weil die Freimaurerei - mein Thema - sich gerade im 18. Jahrhundert weit verzweigt hat. Aus den klassischen Bauhütten entwickelten sich damals Logen verschiedener Ausrichtungen, von esoterisch bis politisch. Mich hat interessiert: Was faszinierte Menschen an den Logen, was wollten sie mit ihnen verändern?

JOURNAL: Wie recherchieren Sie?

NIELSEN: Für mich war der historische Roman noch ganz fremd. Das war für mich nicht nur Bibliotheksarbeit, ich wollte die Epoche so sinnlich wie möglich nachvollziehen: Wie hat sich das angefühlt, wie hat es gerochen, wie bequem oder unbequem war ein Kleidungsstück? Ich habe historische Rezepte nachgekocht. Oder eine Feder gespitzt und versucht, mit Tinte zu schreiben; und die Heizung ausgestellt, um zu sehen, wie schnell die Tinte trocknet. Ich hatte mir auch mal Korsagen und einen Reifrock auf den Leib geschneidert. Und das war total schrecklich!

OELKER: Manchmal ist es schwierig, die Informationen zu finden, die man braucht. In meinem jüngsten Roman erwähne ich zum Beispiel, wie der Michel-Baumeister Sonnin den schiefen Turm der Katharinenkirche mit einer Maschine gerade gerichtet hat. Ich musste lange suchen, bis ich etwas über diese ominöse Sheldon'sche Maschine fand.

JOURNAL: Währungen, Preise, Maße sind der Alptraum jeden Historikers. Muss man einen Zettelkasten haben, um Schnitzer zu vermeiden?

Oelker: O ja. Als ich anfing, habe ich ein paar Fehler gemacht und zum Beispiel mal das metrische System benutzt. Dabei ist das Meter erst während der Französischen Revolution vermessen worden. Zum Glück gibt es heute von Franklin Kopitzsch das wunderbare "Hamburg-Lexikon" mit allen wichtigen Angaben für Hamburg. Aber schon wenn ich meine Romanfigur verreisen lasse, beginnt das Problem: Anderswo galten ganz andere Münzen, Maße und Gewichte. Hinzu kommt: Man kann 1750 nicht mit 1780 vergleichen und Göttingen nicht mit Hamburg oder Stade.

JOURNAL: Die normale Hamburgerin um 1770 oder 1780 musste viel Lärm, Zähneziehen ohne Betäubung, Kinderkrankheiten und Eheverträge ertragen. Ist das Leben der Frauen gut dokumentiert?

NIELSEN: Einige Historikerinnen haben zum Glück gute Vorarbeit für uns geleistet. Rita Bake etwa hat in ihrem Buch "Unordentliche Begierden" Zeitzeugnisse von damaligen Hamburgerinnen zusammengetragen.

OELKER: . . . und auch über Manufakturarbeiterinnen und Armut unter Frauen geschrieben. Es gibt außerdem Lebenserinnerungen von der Pfarrersfrau Margarete Milow, die von 1748 bis 1794 lebte; man weiß einiges über das Leben von Meta Klopstock oder Eva König, die Lessing heiratete. In vielen Quellen verstecken sich Geschichten oder Details über die Frauen. Man muss buddeln, manchmal in alte Gesetzestexte einsteigen. Bei den Ehescheidungen zum Beispiel gab es noch auf jedem Dorf andere Regeln.

JOURNAL: Welche Zwänge beherrschten denn damals das Leben einer Hamburgerin?

Nielsen: Entscheidend war, welchem Stand sie angehörte. In Hamburg war es nicht so extrem wie in einem Fürsten- oder Herzogtum, wo der Adel bestimmend war und jeder vom Grundherrn abhing. In Hamburg gab das Bürgertum den Ton an.

OELKER: Aber die Frau war genauso unmündig. Zuerst war der Vater ihr Vormund, nach der Heirat ihr Ehemann. Seit dem Säbelzahntiger ist entscheidend, ob eine Frau eigenes Geld hat, zum Beispiel durch eine Erbschaft. Nur dann war ihr ein Eigenleben möglich. Die normale Bürgersfrau hatte alle Hände voll zu tun mit der Hauswirtschaft, wozu ja auch Dienstboten gehörten. Madame Büsch, die Frau des Leiters der Handelsakademie Johann Georg Büsch, hat auch die Schüler ihres Mannes bekocht. Sie war eine sehr vergnügte dralle Dame, die gerne Karten spielte und auch an den Aktivitäten ihres Gatten beteiligt war. Eva König, die spätere Frau Lessing, führte nach dem Tod ihres ersten Mannes sein Handelshaus weiter. Sie hatte ein Kind nach dem anderen bekommen, aber sie konnte Bilanzen lesen und mit dem Hof in Wien verhandeln. Sie muss also mit der Arbeit im Kontor vertraut gewesen sein.

JOURNAL: Wer arm war, konnte nicht heiraten. Und unter Bürgern wurde der Bräutigam von den Eltern ausgesucht?

OELKER: Dass die Heirat arrangiert wurde, war für die Frauen ganz selbstverständlich. Natürlich gab es auch Liebe, wie heute. Aber meistens warteten die Frauen nicht, bis sie jemanden liebten, den sie dann heirateten. Sondern sie warteten, bis die Eltern einen passenden Mann fanden. Die Liebesheirat als bürgerliches Ideal ist erst im Biedermeier erfunden worden, etwa ab 1815.

JOURNAL: Nahmen auch Hamburgerinnen Anteil an den Ideen der Aufklärer?

OELKER: Ja, und zwar in "Kränzchen", vor allem in Lesekreisen oder -zirkeln, die großen Zulauf von Frauen, aber auch von Männern hatten. Bücher waren ja teuer. Deshalb lieh man sich die Bücher bei den Treffen untereinander aus und las daraus vor.

JOURNAL: Aber zu den Aufklärerzirkeln und Logen hatten Frauen keinen Zutritt?

OELKER: Nein. Es wurde für Männer schick und gehörte zum guten Ton, einer Loge anzugehören. Aber auch in der Patriotischen Gesellschaft war selbstverständlich keine Frau. Deshalb hat Elise Reimarus (1735-1805, d. Red.), Tochter eines Mitgründers der Gesellschaft, ihre "Teegesellschaft" eingerichtet. Dort wurden Diskussionen geführt, und auch für alle intellektuellen Durchreisenden war sie ein Muss.

JOURNAL: Frau Nielsen, Sie schicken Ihre Romanheldin Celeste verkleidet in eine Freimaurerloge. Wäre das für eine Frau damals denn möglich gewesen?

NIELSEN: Kaum. Als einzige Frau ist die kurländische Dichterin Elisa von der Recke 1793 offiziell in eine Freimaurerloge aufgenommen worden, in die Deutsche Union. Das war ein radikal-aufklärerischer Geheimbund mit Mitgliedern in mehreren Ländern. Hamburgs erste Loge, "Absalom zu den drei Nesseln", nahm natürlich keine Frauen auf.

JOURNAL: Celeste, die Heldin in "Die Freimaurerin", ist eine Baumeisterstochte, die nach dem Tod ihres Vaters mittellos nach Hamburg kommt. Sie hängt quasi zwischen allen Ständen. Muss man die Heldin so konstruieren, damit sie beweglich ist? Die Frauen lebten ja sonst sehr häuslich.

NIELSEN: Ja, ich habe die Celeste entwurzelt, damit sie sich in einer neuen Identität glaubhaft entfalten kann. Da ich selbst viel gereist bin, sollte auch meine Heldin viel reisen, von Amerika nach Frankreich und nach Hamburg. Und in New York brach damals ein Bürgerkrieg aus. Krieg ist immer eine Ausnahmesituation. Da geraten Menschen in extremere Sotuationen, so dass man auch im Roman die Grenzen weiter dehnen kann.

JOURNAL: Frau Oelker, Ihre Komödiantin Rosina ist auch in der Welt Upper Class zu Hause. Eine Ausnahme?

OELKER: Eine normale Komödiantin damals hätte nicht mit meiner gutbürgerlichen Romanfamilie Hermanns befreundet sein können. Das ging nur, wenn sie auch die Codes der Bürger kannte, wenn sie auch Französisch verstand wie die Rosina. Das ist für so eine Geschichte ideal. Denn die Lebensumstände der einzelnen Schichten lagen damals viel weiter auseinander als heute: Wo Elend war, war wirklich Elend. Ich brauchte eine Figur, die sich in Hamburg in allen Kreisen bewegen konnte. Aber ich hatte für die Rosina ein reales Vorbild: die Wanderschauspielerin Friederike Caroline Neuber (1697-1760, d.Red.), die dann Theaterprinzipalin wurde. Die "Neuberin" stammte aus einer bürgerlichen Familie, war hochgebildet und ist eines nachts von zu Hause weggelaufen, weil ihr Vater sie prügelte. Diese biografischen Vorgänge habe ich auf meine Figur übertragen und sie Rosina genannt, weil die Mutter der Neuberin Rosine hieß.

JOURNAL: Die meisten Menschen bewegten sich damals zu Fuß. Woher wissen Sie, wie lange es damals z.B. vom Gänsemarkt bis St. Petri dauerte?

OELKER: Man muss einen verlässlichen alten Stadtplan haben. Das Schöne ist, dass Sie die alten Straßen in Hamburg innerhalb des alten Wallrings größtenteils noch verfolgen können. Für das richtige Zeitgefühl schreite ich die Entfernungen immer selbst ab.