Am 14. Juli lädt Bundeskanzlerin Merkel zum Integrationsgipfel nach Berlin. Deutsche und Türken sind sich noch immer fremd - warum? Das Porträt einer türkischen Familie in Harburg gibt Einblicke in Lebensziele, Werte und Widersprüche, ihr Bild von den Deutschen - und von sich selbst.

Aslan Aydin wirkt wie ein Mann, der in sich ruht, der seine drei Söhne mit Zärtlichkeit behandelt, seine Eltern mit Respekt und seine Geschwister mit Verständnis und gleichzeitiger Strenge. Der 33jährige gibt, obwohl er gemeinsam mit seinen Eltern die Wohnung teilt, in der neunköpfigen türkischen Familie eindeutig den Ton an, doch wählt er ihn mit Bedacht.

Seine Schwester Gülistan (18) wüßte allerdings, wie sie Aslan innerhalb von Minuten zum Ausflippen bringen könnte: "Indem ich verkünden würde, daß ich sofort heiraten und Kinder bekommen möchte", sagt die bildhübsche junge Frau lachend. Denn das würde bedeuten, daß Aslans Anstrengungen, die er seit Jahren für Gülistan unternimmt, umsonst gewesen wären - die vielen Elternabende, die Gespräche mit Lehrern, die Hilfe bei Schularbeiten und anderen Problemen. Aslan hat für seine "kleine Schwester", die als einzige der Geschwister in Deutschland geboren wurde, und für seinen jüngeren Bruder Mustafa (19) die Vaterrolle übernommen. Denn ihre Eltern sprechen nicht genug Deutsch, um all die Elternpflichten für Schule und Behörden zu übernehmen.

Zum Glück ist Gülistan mindestens ein Jahrzehnt von Heiratsabsichten entfernt. Sie hat einen ehrgeizigen Lebensplan, und da paßt derzeit ein Mann absolut nicht rein, sagt sie. Dieses Jahr hat sie ihren Realschulabschluß gemacht, danach will sie auf dem Lessing-Gymnasium in Harburg das Abitur machen und dann an der Universität studieren - sie wäre die erste unter den fünf Geschwistern, der das gelänge. "Ich wäre super stolz, wenn meine kleine Schwester Ärztin oder Anwältin wäre", sagt ihr Bruder Mustafa, der mit ihr bis vor drei Jahren das Zimmer geteilt hat. Jetzt schläft Mustafa auf dem Sofa der Vier-Zimmer-Wohnung. Keiner der Familie hat ein Zimmer für sich, auch Gülistan teilt ihren Raum mit ihren beiden Neffen. "Meine Freundinnen fragen mich immer, wie ich das nur aushalten kann. Aber die Enge macht mir nichts aus, so ist man nie alleine, das ist mir wichtig", sagt sie. Sie lernt dort, wo gerade Platz ist.

Mustafa hingegen hatte keine Lust mehr auf Schule, er hat den Hauptschulabschluß gemacht und ist jetzt Malerlehrling. Die Stelle hat ihm nach 50 erfolglosen Bewerbungen Aslan besorgt, auch wenn der es gerne gesehen hätte, wenn Mustafa weiter zur Schule gegangen wäre.

Denn Aslan bereut es zutiefst, daß er selbst nicht mehr aus seinem Berufsleben gemacht hat. Er hat nach dem Hauptschulabschluß und verschiedenen Aushilfsjobs eine Ausbildung zum Busfahrer gemacht. Doch Aslan ist ehrgeizig und intelligent, er hätte gerne studiert. Als er 1986 mit 15 Jahren nach Deutschland kam, konnte er jedoch weder die Sprache, noch wußte er - im Unterschied zu heute -, wie das deutsche Bildungssystem funktioniert. "Es war schwer für mich am Anfang. Ich fühlte mich einsam, unfreundlich behandelt."

Er war auf sich alleine gestellt, denn seine Eltern hatten selber genug damit zu tun, sich im fremden Land zu orientieren. "Sie haben für uns getan, was sie konnten, doch sie wußten zum Beispiel auch nicht, daß es für Gülistan und Mustafa wichtig gewesen wäre, einen deutschen Kindergarten zu besuchen. Vor allem, um die Sprache zu lernen und wie man sich in der Schule verhält", sagt Aslan. In der Türkei sind Kindergärten auf dem Lande selten.

Im Gegensatz zu der offenen und selbstbewußten Gülistan war es für Mustafa schwer, sich in der Schule anzupassen. "Vielleicht hätte er sonst mehr gelernt", sagt Aslan betrübt. Obwohl Mustafa sehr gut deutsch spricht, hat er überwiegend türkische Freunde. "Kollegen", wie er sie nennt. "Wir haben einfach mehr gemeinsam. Wir sind alle Döner-verrückt, rauchen Wasserpfeife, hören türkische Musik - das machen deutsche Jugendliche einfach nicht", sagt Mustafa.

Außerdem würden die Deutschen lieber in die Disco gehen, sich besaufen und Mädels anbaggern - würde Mustafa das machen, riskierte er riesigen Ärger mit seiner Familie. "Das paßt nicht in unserer Kultur und nicht zu unserer Religion", sagt Aslan, der sich als Berater seiner Geschwister sieht. "Er hat uns beigebracht, was gut und was schlecht ist", sagt Mustafa ernsthaft.

"Sex vor der Ehe und Alkohol sind absolut tabu. Aber meine Geschwister müssen selber für sich entscheiden. Sie haben die Freiheit", sagt Aslan im Nachsatz. Doch er macht damit ziemlich deutlich, was der Preis dieser Freiheit ist. Denn sie auszunutzen wäre verbunden mit einem drohenden Ausschluß aus dem engen Familienverband, der die Hauptrolle im Leben der Aydins spielt.

Gülistan nimmt die Wertvorstellungen ihres Bruders sehr ernst, hat sie sich sogar zueigen gemacht. Das kommt manchmal sogar bei ihren türkischen Freundinnen seltsam an, wie sie zugibt. "Viele Jugendliche hier haben zuwenig Grenzen gesetzt bekommen, das kann auch eine Last sein", sagt sie. So viele schulische Freiheiten Gülistan auch hat, so streng ist ihr Privatbereich reglementiert. Sie darf nach 21 Uhr nicht mehr nach draußen, zum einen, weil es sich "nicht gehört", zum anderen, weil Aslan es für gefährlich hält.

Es scheint, als würde Aslan, so viele Bildungschancen er auch in Deutschland sieht, sich manchmal nach der Sicherheit und den Strukturen seines türkischen Heimatortes zurücksehnen. Er hält Hamburg für ein gefährliches Pflaster. "Ich lebe in ständiger Angst um Gülistan und Mustafa. Man liest in den Medien so viel von Rassismus, Vergewaltigung und Mord. Auch als Busfahrer erlebe ich einiges. Ich habe auch Angst, daß sie auf die falsche Bahn oder an falsche Freunde geraten", sagt er. Aslan ist gut informiert, er sieht im Fernsehen im Gegensatz zu seinen Eltern überwiegend deutsche Nachrichten und Dokumentationen. Tauchen die Geschwister nicht rechtzeitig zu Hause auf, telefonieren seine Mutter oder Aslan hinter ihnen her. "Aus Sorge, nicht um zu kontrollieren", betont Aslan.

Er nimmt die Rolle als Familienoberhaupt sehr ernst, spielt sie schon seit frühester Jugend, als die Mutter noch mit ihren Kindern am dörflich geprägten Stadtrand der anatolischen Großstadt Kayseri lebte; der Vater schickte aus Deutschland das Geld und kam höchstens zweimal im Jahr vorbei.

"In der Türkei lebten wir mit den Nachbarn zusammen wie in einer großen Familie. Jeder kümmerte sich um jeden, das gab Sicherheit", schwärmt Aslan. Das alles fehlt ihm - vor allem eine freundschaftliche Nachbarschaft. Zwar wird dieser Teil Harburgs "Klein-Anatolien" genannt, aber in dem mehrstöckigen Altbau und der Umgebung sei es eher anonym. "Es wohnen Deutsche im Haus, sogar mit gleichaltrigen Kindern. Aber die wollen wohl nichts mit uns zu tun haben", sagt Aslan. Er gibt aber zu, daß auch er noch keinen Schritt auf sie zugemacht hat.

Auch nach 20 Jahren in Deutschland ist Aslan den Deutschen nicht wirklich nahe gekommen. Aber eine Meinung hat er über sie: "Ich glaube, viele Deutsche sind einsam, das Geld steht für sie an erster Stelle. Sie wollen keine Beziehungen und bauen Mauern um sich herum." Er selbst baut mit dem strikten Klammern an seine Kultur auch Mauern um sich herum. Zwar hat er für sich und seine eigenen Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt, denn sie "sollen sich zugehörig zu Deutschland fühlen". Gleichzeitig sollen sie aber die türkische Kultur, Religion und die Familienregeln strikt achten. Und Aslan gibt offen zu, "daß der Kontakt zwischen Deutschen und Türken auf Grund der kulturellen Unterschiede schwierig ist".

Gülistan sieht das nicht so eng. Sie ist in Deutschland verwurzelt, sie hat deutsche und türkische Freunde, allerdings habe ihre Familie immer Priorität, sagt sie. Schulisch war Gülistan bisher viel unterwegs. Sie war mehrere Jahre lang Schulsprecherin. Ihre Mutter Hatice hätte es gerne, daß Gülistan mehr im Haushalt hilft, doch dafür fehlen ihr die Zeit und Lust.

Aslan unterstützt sie, dafür riskiert er auch einen Streit mit seinen Eltern. Er ist eine Art Vermittler zwischen seinen Geschwistern und den tiefgläubigen, konservativen Eltern. Denn für Aslan ist ganz klar: "Ohne Bildung wirst du hier nicht respektiert, vor allem die Frauen nicht. Sie sollen einen Beruf erlernen, denn wer keine Arbeit hat, wird unterdrückt."

Manchmal kann er sich allerdings nicht gegen seine Eltern durchsetzen. Als es zum Beispiel um den Klassenausflug von Gülistan in der siebten Klasse ging. Da war sie in der Pubertät, also in dem Alter, ab dem türkische Mädchen sich von Männern fern halten sollen. Und über die Klassenausflüge hatten die Aydins Schlimmes gehört. "Die Schüler betrinken sich und landen nachher im Bett", sagt Aslan. Das wäre das Schlimmste, was Gülistan passieren könnte. Deswegen hatten ihre Eltern ihr den mehrtägigen Ausflug verboten.

Gülistan gibt vor, sich an die Gründe für das Verbot nicht mehr erinnern zu können, doch Aslan sagt: "Es ist nicht so, daß wir ihr nicht trauen, sondern wir trauen ihren Schulkameraden nicht." Erst als die Klassenlehrerin bei der Abschlußfahrt in der 9. Klasse den Aydins mit gerichtlichem Ärger drohte, durfte Gülistan mitfahren.

Ebenso hat Aslan bei den Eltern durchgesetzt, daß Gülistan sich regelmäßig mit einem deutschen Jungen zum Lernen treffen durfte. Doch ausgehen mit ihm, das wäre für Gülistan undenkbar. "In unserer Kultur verlobt man sich erst mit einem Mann, dann darf man ihn auch alleine treffen", sagt sie. "Erst heiraten, dann zusammenleben", stellt auch Aslan klar. Er erzählt von einer türkischen Familie, bei der die Tochter mit einem Mann weggelaufen sei. "Es gibt keinen Kontakt mehr zwischen der Tochter und der Familie. Das wäre bei uns genauso, egal, ob es Gülistan oder Mustafa ist, der die Regeln des Korans und unsere Kultur verletzt. Es kränkt die Ehre der Familie."

Einen Ehrenmord halten Aslan und auch Mustafa allerdings für ein abscheuliches Verbrechen. Doch was wäre, wenn Gülistan sich verliebt, aber nicht sofort heiraten möchte? "Freundschaft ist o.k., aber man muß seine Grenzen kennen. Ich bin streng gläubig und halte mich an die Weisungen des Korans", sagt das Mädchen lächelnd. Doch auch was die Wahl des Ehemanns angeht, sind die Grenzen eindeutig festgelegt: Ein deutscher Mann kommt nicht ins Haus Aydin, auch wenn er zum Islam konvertieren würde. "Das könnte nicht gutgehen zwischen den beiden. Meine Eltern würden das nie akzeptieren. Und ich möchte nicht, daß Gülistan dann geschieden mit Kindern und ohne Familienanschluß dasteht", sagt Aslan. Er habe manchmal das Gefühl, daß Deutsche nur heiraten würden, um sich wieder scheiden zu lassen. "Deutsche Männer denken vor der Ehe daran, welchen Unterhalt sie bei einer Trennung zahlen müßten, deswegen bekommen sie erst gar keine Kinder."

Für einen Türken ist so eine Einstellung undenkbar. Aslan ist der Überzeugung, daß türkische Ehen glücklicher seien als deutsche. "Wir geben nicht bei jedem kleinen Problem auf." Mißbrauch und Unterdrückung türkischer Frauen seien die Ausnahme, glaubt er, auch wenn eine Studie des Familienministeriums von gegenteiligen Fakten berichtet. Danach haben türkische Frauen deutlich häufiger als der Durchschnitt der Frauen in Deutschland körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt.

Gülistan will sich in der Nationalität ihres künftigen Ehemanns noch nicht festlegen. Sie will eh' nicht vor 30 heiraten. Wichtig ist ihr nur, daß auch er gläubig ist. "Und mein Mann soll studiert und gebildet sein." Auf keinen Fall will sie etwas mit einem "Hauptschulabgänger" zu tun haben, "oder mit einem von diesen goldkettchenbehängten Machos, die auf der Straße rumlungern und mir dumme Sprüche hinterherrufen".

Diese Türken nennt ihr Bruder Mustafa "In-Türken". "Die behaupten, sie seien stolz, Türken zu sein, das sei total cool, dabei können sie unsere Sprache noch nicht mal. Sie saufen, sind aggressiv und brüllen rum. Die haben überhaupt keinen Respekt vor Frauen und Älteren", sagt er und wird wütend. "Ein normaler Deutsch-Türke wie ich ist ruhig, arbeitet und labert nicht dumm rum. Aber diese In-Türken werfen mit ihrem Gehabe ein total schlechtes Licht auf uns. Die fallen in der Öffentlichkeit auf, und alle Deutschen denken, wir wären wie die." Er glaubt, diese Typen seien auf der Suche nach einer Identität. Auf die Frage, als was er sich denn fühle, zuckt Mustafa hilflos mit den Schultern.

Gülistan regt sich darüber auf, daß manche türkischen Jugendlichen nichts aus ihrem Leben machen. "Die bekommen von ihrer Mutter alles in den Arsch geschoben und sehen nicht die reale Welt und ihre Chancen." Ihr Bruder Aslan vergleicht diese "In-Türken" mit "ungepflegten Bäumen, deren Eltern kein Interesse an ihrer guten Erziehung, an Schulbildung und Werten haben". Er versteht die Jugendlichen aber. "Sie hatten schulisch keinen Erfolg, deswegen versuchen sie ihr Glück auf der Straße." Sie auszugrenzen hält er für völlig falsch. Statt dessen müßte man die Ghettos auflösen, die Stadtteile sollten besser gemischt sein, türkische Jugendliche sollten sich nicht an ein paar Schulen konzentrieren.

Deswegen fuhr Gülistan bis vor den Ferien jeden Morgen aus dem Arbeiterviertel Harburg, wie sie es etwas abfällig nennt, eine Dreiviertelstunde zur Realschule nach Sinstorf. "Dort sind überwiegend Deutsche, so verlerne ich mein Deutsch nicht. Und da herrschen bessere Umgangsformen", sagt sie.

Aslan und Gülistan meinen beide, es sollte mehr türkische Lehrer geben, die mit den Eltern sprechen und ihnen das deutsche Schulsystem erklären. Gülistan würde gerne so eine Lehrerin werden. "Ich will ein gutes Vorbild sein, für die Deutschen, aber vor allem auch für die Türken. Ich will zeigen, daß man seine Kultur hier leben und gleichzeitig im Beruf erfolgreich sein kann. Das nenne ich dann eine gelungene Integration."