Was empfinden wir eigentlich als “schön“? Über Jahrhunderte versuchten Künstler und Forscher, das zu enträtseln. Ein überraschendes Gesetz wirkt immer noch: Schön ist, was durchschnittlich ist.

Das erste Lehrbuch über menschliche Proportionen stammt aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. und ist zugleich der frühste überlieferte Schönheitskanon. Ausgehend von architektonischen Kunstwerken, die das Auge als ausgewogen und harmonisch empfindet, ging der griechische Bildhauer Polyklet davon aus: Schönheit drückt sich auch beim menschlichen Körper durch ein symmetrisches Verhältnis der Gliedmaßen zueinander aus.

Wie viele andere Renaissance-Künstler versuchte auch Albrecht Dürer, ästhetische und natürliche Prinzipien zu vereinbaren, und stützte sich dabei u. a. auf den "Goldenen Schnitt". Zwei Strecken oder die Seitenlängen von Rechtecken oder Dreiecken stehen im Verhältnis des Goldenen Schnitts zueinander, wenn dieses Verhältnis die Zahl 1,618 ergibt (es taucht heute z.B. bei Kleinbildfilmen, der Norm DIN A 4, TV- und Computerbildschirmen auf). Der Goldene Schnitt, der bereits im Altertum bekannt war, gilt in Kunst und Architektur als ideale Proportion und als Inbegriff von Ästhetik und Harmonie. Er ist in Dürers "Selbstbildnis" von 1500 und in "Melancolia" von 1514 zu erkennen. Im Proportionsbuch von 1528 definierte Dürer Schönheit nicht mehr als Idealform, sondern als Ausgleich zwischen Extremen. Er empfahl, sich an akzeptablen Mittelwerten zu orientieren.

Einen Schritt weiter ging sein italienischer Kollege Giorgio Vasari (1511-1574). Dessen Bild "Das Studio des Malers" zeigt den Künstler selbst, wie er die jeweils unterschiedlichen Körpermerkmale dreier Frauen auf die Leinwand bringt. Um den Inbegriff weiblicher Schönheit abzubilden, bediente sich Vasari des "Kompositmodells"; anstatt die Natur abzubilden, versuchte er sie durch dieses Mischverfahren zu übertreffen.

Während antike und Renaissancekünstler wesentlich daran interessiert gewesen waren, Schönheit abzubilden , versuchten Wissenschaftler im 20. Jahrhundert, die Schönheit zu enträtseln . Das Gesicht rückte dabei in den Mittelpunkt.

Die ersten Untersuchungen über einen einheitlich gültigen Schönheitsbgriff führte der englische Psychologe A. H. Iliffe 1960 durch. Er bat die Leser eines Boulevard-Magazins, zwölf Bilder von jungen Frauen zu beurteilen. Die 4355 Antworten ergaben, daß in allen Landesteilen, durch alle Berufsgruppen und über alle Altersstufen hinweg dasselbe Gesicht als das Attraktivste bezeichnet wurde. Iliffes Fazit lautete daher: "Es gibt eine gemeinsame Basis des Schönheitsempfindens, zumindest was Gesichter betrifft."

Die Anthropologen David Morland und Robert B. Zajonc stellten 1982 fest, daß Durchschnittsgesichter, die dem Mittelwert einer Bevölkerung entsprechen, sehr bekannt und vertraut und daher überwiegend als "schön" empfunden würden.

Ähnlich brachten es auch Judith Langlois von der University of Texas und ihre Kollegin Lori Roggman 1990 auf den Punkt: "Schöne Gesichter sind Durchschnittsgesichter." Die Forscherinnen hatten Vasaris Kompositmodell modernisiert und mehrere Frauenporträts mittels Computertechnik übereinander kopiert. Mit dem Ergebnis, daß das gemittelte Gesicht meist schöner wirkte als die jeweiligen Einzelgesichter.

Den gleichen Effekt erzielte ein Titelbild des amerikanischen TIME Magazine Ende der 1990er Jahre: Es zeigte das Porträt einer jungen Frau, die "das neue Gesicht Amerikas" darstellen sollte. Einziger Schönheitsfehler: Die Frau existierte gar nicht. Das Cover war eine digitale Komposition aus mehreren Frauen-Porträts, zu je einem Teil asiatischer, europäischer und afrikanischer Herkunft. Dennoch verliebten sich angeblich einige der männlichen Redaktionsmitglieder auf Anhieb in die bildhübsche Frau.

Durch das Misch-Verfahren werden also offensichtlich physiognomische Extreme gemildert, während Durchschnittliches sich zu etwas außergewöhnlich Angenehmen verbindet. Warum Durchschnittsgesichter durchgängig als schön empfunden werden, hat nach Meinung des Psychologen Karl Grammer damit zu tun, wie das menschliche Gehirn speziell Gesichter wahrnimmt. Wir verarbeiten Informationen über Gesichter größtenteils offenbar über sogenannte Prototypen: idealisierte Vorstellungen, die u. a. dem Durchschnittstyp einer bestimmten Klasse von Objekten entsprechen. Solche Prototypen entstehen auch, wenn wir Gesichter wahrnehmen. In der Bewertung empfinden viele Menschen daher Prototypen als sehr attraktiv.

Folgt man dieser Erklärung, scheint es naheliegend, daß jede Epoche auch "ihre" Gesichter hat. Mary Jane Russell und Dorian Leigh in den 50er Jahren, Twiggy und Veruschka in den 60ern, Lauren Hutton, Jerry Hall, Grace Jones und Iman in den 70ern, die Super-Models Cindy Crawford, Tatjana Patitz und Linda Evangelista in den 80ern, Claudia Schiffer in den frühen und die androgynen Typen Kate Moss und Stella Tennant in den späten 90er Jahren. Heute laufen junge, natürliche Nobodys mit kleinen, originellen Makeln über die Laufstege.

Der Evolutionsbiologe Charles Darwin erkannte schon 1874: "Die Menschen einer jeden Rasse ziehen das vor, was sie zu sehen gewohnt sind, sie können keine Veränderung ertragen, aber sie lieben Abwechslung und bewundern es, wenn ein charakteristischer Punkt bis zu einem mäßigen Extrem geführt wird." Ein paar Sommersprossen zuviel, ein abstehendes Ohr, zu große Kulleraugen . . .

In der Mode- und Werbefotografie ist noch immer fest verankert, möglichst perfekte Schönheit zu produzieren - oder die Illusion davon. Es gibt heute kaum noch eine Anzeige oder ein Zeitschriften-Cover, die nicht digital nachbearbeitet und "geschönt" worden wären. Doch das hat eine Kehrseite: Seit der Identitätsbaukasten der Computer-Paintbox beliebige Modellierungen der Wirklichkeit und sogar Codes individueller Merkmale herstellen kann, wirkt die vollkommene Geometrie eines Gesichts auf uns schon fast unglaubwürdig.

Das Rätsel um die Schönheit beschäftigt Künstler, Wissenschaftler und die Schönheitsindustrie seit Jahrhunderten. Wir glauben die Gesetze der Schönheit zu kennen und können sie dank moderner Technik perfekt nachbilden. Doch laufen wir gleichzeitig Gefahr, den Sinn des Schönen zu verlieren. "Der Mensch von heute", meinte die Künstlerin Laura Mulvey 1989, sei "ein erbärmlicher, von seinesgleichen im Stich gelassener Prothesengott, den nicht einmal mehr die Illusion eines Kunstwerks, die Verlockung der Schönheit zu trösten vermag".

Die niederländische Mode-Fotografin Inez van Lamsweerde sieht dagegen in der Schönheit eins der letzten Rätsel der Menschheit: "Die Antwort darauf, warum die Erfahrung der Schönheit einem so unter die Haut geht, warum sie so persönlich und schmerzvoll ist, liegt darin, daß man sie niemals vollständig erfassen oder verstehen kann."