Ingo Schultz war vor einem Jahr noch ein unbekannter Hamburger Student. Jetzt ist er Vizeweltmeister und große Medaillenhoffnung bei den Leichtathletik-Europameisterschaften Anfang August in München.

Dies könnte die Geschichte sein von einem, der früh darauf angewiesen war, sich durchzubeißen. Der in seinem Leben nur eines wirklich gelernt hat: schnell zu laufen. Und der davon träumt, irgendwann schneller zu sein als alle anderen. Doch Ingo Schultz ist einer, der nicht zu träumen braucht - weil die Wirklichkeit stets schneller war als seine Träume. Schultz, Zeitsoldat, Diplom-Elektrotechniker, Promovend an der Universität der Bundeswehr in Hamburg-Jenfeld, Violinist und - seit nun fast schon einem Jahr - Vizeweltmeister über 400 Meter, sagt gern Sätze wie: "Ich stehe mit beiden Beinen im Leben." Und er weiß, dass die deutsche Leichtathletik ihre Hoffnungen für die Europameisterschaften in München (6. bis 11. August) vor allem an eben diese Beine geknüpft hat, die bis vor einem Jahr noch einem fast unbekannten Hamburger Studenten gehörten. Auch Jürgen Krempin war vor einem Jahr noch ein ziemlich unbekannter Hamburger Leichtathletiktrainer. Inzwischen gehen auf dem Handy des studierten Informatikers bis zu 20 Anfragen am Tag ein: Angebote von Buchverlagen, Einladungen zu Vorträgen über Trainingsmethodik oder Stellenausschreibungen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Seine leitende Arbeit in der Hamburger Innenbehörde wird Krempin wohl vom kommenden Januar an ruhen lassen, um sich ganz dem Sport zu widmen. Das Talent des Ingo Schultz hat er vor vier Jahren entdeckt. "Dass ich vorher schon 20 Jahre Trainer war, hat keinen mehr interessiert." Ein Spätberufener zu sein, diese Erfahrung verbindet Krempin mit seinem Schützling. Dass sich die Wege der beiden kreuzten, mag Zufall sein, der Erfolg ist es nicht. Vor vier Jahren bestritt Schultz als Hochschulsportler, dessen Leichtathletik-Erfahrung sich bis dahin auf einen gut dreieinhalbstündigen Marathonlauf 1997 in Hamburg beschränkt hatte, sein erstes elektronisch gestopptes 400-Meter-Rennen. Da war er bereits 23 Jahre alt und benötigte 52,45 Sekunden. Eine für einen Debütanten sehr ordentliche Zeit, die aber nicht einmal in der Fachwelt Aufsehen erregte. Heute, mit 27, hat er ein Niveau erreicht, in dem sich Fortschritte nur noch in Hundertstel messen lassen. Seit dem WM-Halbfinallauf vor einem Jahr im kanadischen Edmonton steht seine Bestleistung bei 44,66 Sekunden. Es soll nur eine Zwischen-Zeit sein auf einem Weg, der bisher nur eine Richtung kannte: nach oben. "Ich glaube, dein Europarekord wackelt", flüsterte Krempin am Rande der Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Bochum Thomas Schönlebe zu. Der Chemnitzer hatte 1987 bei seinem überraschenden WM-Sieg in Rom im Trikot der DDR 44,33 Sekunden für die Stadionrunde benötigt. Bis auf 33 Hundertstelsekunden ist Schultz bereits an diese Zeit heran gelaufen. Und wenn seine Leistungskurve weiter so verläuft wie ein New-Economy- Aktienkurs zu Zeiten des Börsenbooms, wird es kein weiteres Jahr dauern, bis Schultz auch diesen Rückstand aufgeholt hat. Am liebsten dort, wo es am meisten darauf ankommt. "Wenn ich mir meine bisherigen Leistungen anschaue, dann gibt es keinen Grund, warum ich nicht bei den Europameisterschaften gut abschneiden sollte", sagt Schultz. "Wenn man auf der neu verlegten Kunststoffbahn in München gute Zeiten erzielen kann und es einigermaßen warm wird, ist der Europarekord drin", sagt sein Trainer. Es ist nicht lange her, da wäre Krempin über seine eigene Aussage erschrocken. "Noch vor einem Jahr hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass man clean, also ohne Doping, unter 44,5 Sekunden bleiben kann." Eine Zeit unter 45 Sekunden, die Eintrittskarte in die Weltklasse, galt in der Vergangenheit stets als verdächtig. Inzwischen reicht Krempins Vorstellungskraft sogar so weit, "dass Ingo irgendwann unter 44 Sekunden läuft". Das schafften bisher nur sieben US-Läufer. Der Coach wird es ihm vorher nur zu sagen brauchen, und Schultz wird es zumindest versuchen. "Ingo ist mental unglaublich stark", sagt Krempin, "andere 400-Meter-Läufer haben Angst." Vor den Gegnern, den Schmerzen, dem Einbruch auf der Zielgeraden. Schultz weiß um die Voraussetzungen für seine Strecke: "Wer nicht die Bereitschaft mitbringt, sich bis zum Erbrechen durchzuquälen, hat bei den 400 Metern nichts verloren." Er kennt dieses Gefühl gut, das sich an schlechten Tagen schon nach 150, an besseren erst nach 300 Metern einstellt, wenn die anaerobe Schwelle (ohne Sauerstoff) überschritten ist und nur noch der Wille den geschundenen Körper vorantreibt. "Die Lust am Schmerz gehört dazu", gibt er zu. Auch wenn die besten Rennen immer die sind, in denen es gar nicht wehtut. Dabei gibt es niemanden, der ihn zwingen würde, sich zu quälen. Als Oberleutnant der Bundeswehr hat Schultz einen Job, der solange krisensicher ist, solange Krisen sicher sind auf dieser Welt. Seine Diplomarbeit an der Universität der Bundeswehr in Hamburg zum Thema: "Organische Transistoren auf Polymerbasis" ist fertig gestellt - Gesamtnote: 1,3. Inzwischen promoviert er zu diesem elektrisierenden Thema. Mit anderen Worten: Ingo Schultz könnte sich ein angenehmes Leben machen. Und tut es auch. "Ich will so lange laufen, wie ich Lust dazu habe", sagt er. Und er weiß, dass da "ein vernünftiges Leben" auf ihn wartet, wenn die Motivation schwinden oder die Karriere ein abruptes Ende finden sollte: "Das lässt mich mit einer gewissen Gelassenheit an die Sache herangehen." Deshalb war Schultz auch nicht enttäuscht, als er Mitte Juni bei seinem Heimmeeting im Hammer Park bei abendlicher Kühle in 45,34 Sekunden nur als Dritter ins Ziel kam. "Die Zeit ist eine Zehntel schneller als zu diesem Zeitpunkt im Vorjahr", befand er danach. Mehr wollte ihm nicht einfallen auf die Frage, was sich gegenüber seinem Auftritt 2001 verändert habe, als der Name Schultz noch kein Name war. Natürlich ist viel auf ihn eingestürzt seit jenem Silberlauf von Edmonton. Aber Schultz hat das meiste davon aufgefangen: "Ich habe mein Umfeld weitgehend unverändert gelassen, diese Konstanz ist wichtig für mich." Das Umfeld, das sind neben der Familie im emsländischen Lingen und seiner neuen Freundin Antje Buschschulte (24), der Welt- und Europameisterin im Schwimmen, vor allem Trainer, Managerin, Physiotherapeut, Ernährungsberater und Arzt. "Ingo hat sich das alles selbst geformt", erklärt Krempin, "er arbeitet absolut professionell." Dazu gehört auch weiterhin, den zahlreichen Verlockungen des Lebens und seiner Kollegen zu entsagen. "Wer täglich solche Mühen in Kauf nimmt, sollte schon dem einen oder anderen Bierchen widerstehen können", sagt Schultz. Abends einen Film schauen oder in die Kneipe gehen - "das sind Abläufe, die ich nicht kenne, aber auch nicht vermisse". Solche Bekenntnisse hört Clemens Prokop gern. "Sportler wie er sind wichtig für die Imagebildung der Leichtathletik", weiß der DLV-Präsident. "Wir sind sehr froh, dass wir ihn haben." Erst recht, wenn dem EM-Botschafter am übernächsten Donnerstag tatsächlich die Goldmedaille um den Hals gehängt wird. Diesmal wird er der Gejagte sein. Aber auch in dieser Rolle fühlt er sich wohl: "Ich kann mich ohnehin nicht verstecken, schon auf Grund meiner Körpergröße." Schultz misst 2,01 Meter. "Ingo ist eine Erscheinung", schwärmt der Wattenscheider Konkurrent Bastian Swillims, der ihn eigentlich einmal beerben soll. Spricht so einer, der einem am Thron rütteln will? Die Termine auf der Tartanbahn werden nach der Europameisterschaft weniger werden, die außerhalb wohl nicht. Ingo Schultz hat damit umgehen gelernt. "Man darf sich selbst nicht zu ernst nehmen", findet er. Es genügt ja, wenn die anderen das tun.