Berlin. Der „Spiegel“ hat Sexismus zum Titelthema gemacht. Der eigenen sexistischen Vergangenheit stellt sich das Magazin allerdings nicht.

Er „saß in einem dunkelroten seidenen Morgenmantel am Fenster … Ich wunderte mich, dass es ihm nichts auszumachen schien, sich derart zwanglos zu geben. Meinen Vorsatz, mit ihm ein Bewerbungsgespräch zu führen, legte ich ad acta. … Er seufzte abgrundtief und erhob sich langsam aus seinem Sessel. Wortlos ging er in das angrenzende Schlafzimmer zog dort seinen Morgenmantel und unter Stöhnen und Ächzen auch seine Strümpfe aus. ... Dergestalt entkleidet warf er sich aufs Bett, zog schwungvoll die Bettdecke über sich und fragte übergangslos, ob ich mich nicht ebenfalls ausziehen und neben ihn legen wolle. Nö, sagte ich sauer. … Er sei so entsetzlich einsam, murmelte er … und etwas wie, wir sollten jetzt endlich mal fieken. Eine Sekunde lang überlegte ich, warum er wohl fieken statt ficken sagte, und erklärte ihm unmissverständlich, ich hätte einen festen Freund.“

Nein, dies ist nicht der wegen seiner sexuellen Übergriffe berüchtigte Filmproduzent Harvey Weinstein. Die hier zitierte Stelle findet sich in dem 2016 erschienen Buch „Der Herausgeber“ von Irma Nelles. Die Szene, die sie schildert, soll sich 1982 zugetragen haben. Nelles, in den 70er-Jahren Sekretärin beim „Spiegel“, war von ihrem ehemaligen Chef Rudolf Augstein in ein Hotel gebeten worden. Sie hoffte auf eine erneute Anstellung. Er hatte anderes im Sinn.

„Spiegel“ spart in Sexismus-Titelgeschichte eigene Geschichte aus

Dennoch wird Nelles 1984 Leserbrief-Redakteurin bei dem Nachrichtenmagazin und später Augsteins Büroleiterin. Übergriffige Avancen gibt es auch da noch. Wohl weil sie mit seinen Annäherungsversuchen sehr souverän umgehen kann, bleibt Nelles bis zu Augsteins Tod 2002 dessen engste Mitarbeiterin.

Im Zuge des Weinstein-Skandals waren sexuelle Übergriffe und Sexismus diese Woche Titelthema beim „Spiegel“. Seltsamerweise wurde dabei die Geschichte des eigenen Hauses komplett ausgespart. In der vorangegangenen Ausgabe hatte das Nachrichtenmagazin, ebenfalls im Zusammenhang mit Weinstein, noch kurz und unvollständig die Erlebnisse der Büroleiterin seines Gründers erwähnt: „Wäre heute noch ein Herausgeber des ,Spiegel‘ denkbar“, fragte es, „der seine künftige Sekretärin zum Bewerbungsgespräch in ein Hotel lädt und sie im seidenen Morgenmantel empfängt, wie es Irma Nelles in ihrem Buch über Rudolf Augstein beschrieb?“

„Spiegel“ will sich offiziell nicht äußern

In Redaktionskreisen heißt es, die Redakteurin Beate Lakotta sei kurzfristig beauftragt worden, für das aktuelle Heft ein Stück über Sexismus beim „Spiegel“ zu schreiben, das nicht mitgenommen wurde. Sie hat es inzwischen zurückgezogen. Die Zeit für die Recherche sei nicht ausreichend gewesen.

Auf einer Redaktionskonferenz am Mittwoch ging es dann doch noch um Sexismus im eigenen Haus. Diskutiert wurde eine – interne oder externe – historische Aufarbeitung des Problems. Das könnte brisant werden, geht es dabei doch um nichts Geringeres als um das fragwürdige Verhalten des Magazingründers. Hat Augstein mit seinen Übergriffen dafür gesorgt, dass beim „Spiegel“ jahrzehntelang ein sexistisches Redaktionsklima herrschte? Beschlossen wurde aber nichts. Offiziell mag sich der „Spiegel“ zu all dem nicht äußern.