Hamburg. Frische Maronen oder Pfifferlinge sind jetzt ein Genuss. Aber wer nur vage Kenntnisse davon hat, sollte sie nicht selber sammeln.

Es ist unübersehbar: Die Blätter fallen, es ist Herbst. Kalendarisch erst seit gut einer Woche, meteorologisch schon seit einem Monat. Laut einer Forsa-Umfrage ist – wie auch meine Frau Anke – die Hälfte der Deutschen der Meinung, dass das Sommerwetter in diesem Jahr mistig war. „Hör bloß auf“, wehrt sie ab, wenn ich ihr mit Zahlen und Statistiken das Gegenteil beweisen will. Tatsächlich ist das Wetter, was die Temperaturen angeht, kaum anders gewesen als sonst. Es hat halt nur ein bisschen mehr geregnet. So viel, dass ich kaum gießen musste – außer Kübel- und Neuanpflanzungen.

Ansonsten ist fast alles gewachsen, als gäbe es kein Morgen. Auch die Pilze. Sie lieben es feucht und modrig. Ich gehöre leider zu den Menschen, die sich mit Pilzen überhaupt nicht auskennen. Wie sollte ich auch? Meine Eltern hatten keine Ahnung. Mein Vater liebte Steinpilze oder Pfifferlinge in der Soße zu Wildbraten. Meine Mutter konnte ein tolles Hühner-Ragout mit Champignons. Die Pilze aber kamen aus der Dose oder waren getrocknet. Sicher ist sicher.

Die sogenannten „Stellen“

Ich selber ging gern mit einem Freund aus der Nachbarschaft im Spätsommer oder Herbst „in die Pilze“, wie man sagt. Er stammte aus einer Sammlerfamilie. Das Pilzwissen war über Generationen vererbt. Wenn ich mit ihm Pilze gesucht hatte, sortierte er abends die giftigen aus. Mein Korb war dann halb leer. Ich verließ mich so sehr auf ihn, dass ich wild drauflossammelte und nie richtig lernte, die essbaren von den giftigen Pilzen zu unterscheiden. Das war ein bisschen so, wie wenn man heute nur noch mithilfe des Navis fährt. Das ist einfach, aber man merkt sich so nicht den Weg. Früher suchte man sich den Weg mit dem Stadtplan und hatte eine Route spätestens nach dem zweiten Mal im Gedächtnis abgespeichert. Heute drückt man im Navigator lieber die Abteilung „Letzte Ziele“.

Das sind bei eingefleischten Sammlern die sogenannten „Stellen“ – jene pilzreichen Orte in den Wäldern, die sie ungern weitergeben. In unserem Dorf im Wendland, wo auch unser kleiner Mühlenpark liegt, gibt es eine Frau, die schon auf die 90 zugeht. Sie kenne solche „Stellen“ im nahen Göhrdeforst, raunen sich die Nachbarn zu. Sie berichten von Zeiten, in denen die Witwe, die bei uns bewundert wird wie andernorts sogenannte Kräuterhexen, etwa mit Taschen voller Pfifferlinge aus dem Wald zurückkam. Aus unserem Dorf geht heute keiner mehr „in die Pilze“. Keine Zeit, keine Lust?

Weltweit gibt es 120.000 Arten

Ich vermute: Es hapert auch an den Kenntnissen. In unserem kleinen Mühlenpark wachsen auch Pilze. Ein Nachbar tippte einmal auf Braunkappen, ein anderer auf Maronen, ein dritter auf Steinpilze. Nur bei einem Fliegenpilz waren wir uns einig. Rat beim Biozen­trum am Botanischen Garten in Klein Flottbek? Meine Schwiegermutter in Berlin nämlich geht, im Zweifel, mit ihren Pilzen aus der Schorfheide zum Botanischen Museum in Dahlem. Zweimal die Woche ist dort Pilzberatung. In Hamburg gibt es die nicht mehr. Stattdessen wird man auf die Telefonnummer 0551/192 40 des Giftinformationszentrum-Nord in Göttingen verwiesen, rund um die Uhr erreichbar.

Und auf die Deutsche Gesellschaft für Mykologie. Mykologie ist die Wissenschaft, die sich mit Pilzen befasst. Weltweit gibt es 120.000 Arten. Ein geheimnisvolles Zwischenreich der Natur zwischen Tieren und Pflanzen. Was wir sehen, ist der kleinste Teil. Unterirdisch zapfen einige etwa die Wurzeln von Bäumen an, um sich mit Zucker zu versorgen. Als Gegenleistung helfen sie Gehölzen bei der Wasserversorgung. Bevor der Mensch sesshaft wurde und sich aus Baumstämmen und Stroh ein Sofa baute, war er als Jäger und Sammler unterwegs. Pilze und Beeren waren Grundnahrungsmittel. Das Wissen darüber wurde über die Jahrtausende von Generation zu Generation weitergegeben.

Giftpilz leicht zu verwechseln

Seit ich im Bio-Unterricht, da war ich etwa zwölf, vom Knollenblätterpilz gehört habe, lasse ich die Finger vom Sammeln. Dieser Giftpilz ist leicht mit dem leckeren Wiesenchampignon zu verwechseln. Nach acht Stunden tut der Bauch weh. Danach werden die inneren Organe langsam zersetzt. Ohne frühzeitige Behandlung hilft nur noch eine Lebertransplantation. Und die gibt es auch nicht an jeder Ecke.

Karl Günther Barth
Karl Günther Barth © HA | Klaus Bodig

Neulich gab es bei Anke und mir eine Steinpilzpfanne. Zwiebeln und gewürfelten Schinkenspeck in Butter andünsten, dann die Pilze in Scheiben von einem halben bis zu einem Zentimeter bräunen. Später auf dem Teller frische gehackte Petersilie, pfeffern und salzen. Die Pilze stammten vom Markt. Nicht so aromatisch wie früher. Haben auch einen langen Weg hinter sich. Gekühlt aus dem Baltikum angeliefert. Mit 25 Euro das Kilo aber teurer als Rumpsteak.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth