Demonstranten werfen mit Steinen, die Polizei setzt Tränengas und Gummigeschosse ein. Medienberichte über Erdogans Ausraster heizen die Stimmung auf. Kommt er jetzt nach Deutschland?

Ankara/Istanbul/Soma. Es ist die Katastrophe nach der Katastrophe. Nur Tage nach dem schweren Bergwerksunglück in der Türkei versucht die Regierung in Ankara, die wachsenden Proteste mit Gewalt zu unterdrücken. Am Schauplatz des Unglücks in Soma gingen Polizisten am Freitag mit Tränengas, Gummimantelgeschossen und Wasserwerfern gegen rund 10.000 Demonstranten vor, die den Rücktritt der Regierung forderten. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geriet wegen seines Umgangs mit dem Unglück zunehmend in die Kritik.

Die Demonstranten in Soma weigerten sich trotz Aufforderung der Polizei, sich zurückzuziehen, und antworteten mit Steinwürfen auf den Tränengaseinsatz. Mindestens fünf Menschen wurden verletzt, wie eine AFP-Reporterin beobachtete. Die Menge rief Parolen wie „Rücktritt der Regierung“ oder „Soma, schlaf‘ nicht, vergiss die Kumpel nicht.“

Nach dem schwersten Bergwerksunglück in der Geschichte der Türkei mit vermutlich mehr als 300 Toten werfen Kritiker der Regierung vor, den wirtschaftlichen Aufschwung auf Kosten der Arbeitssicherheit vorangetrieben zu haben. Zusätzlichen Unmut erregte Regierungschef Erdogan durch seine Reaktion auf das Unglück.

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Erdogan hatte Soma am Mittwoch besucht und viele Bewohner gegen sich aufgebracht, als er über die angebliche Unvermeidbarkeit von Bergwerksunfällen sprach: „So etwas passiert eben“, sagte er. Daraufhin wurde Erdogans Wagenkolonne von wütenden Demonstranten attackiert, die den Rücktritt des Ministerpräsidenten forderten.

Erdogan soll Opfer-Angehörige attackiert haben

Laut Medienberichten vom Freitag soll Erdogan bei seinem Besuch in Soma zudem auf zwei Betroffene losgegangen sein. Die 15-jährige Tochter eines Todesopfers des Grubenunglücks sei von Erdogan tätlich angegriffen worden, nachdem sie den Regierungschef als „Mörder meines Vaters“ beschimpft habe, berichteten die Zeitung „Evrensel“ und andere Medien. Demnach ohrfeigte Erdogan zudem einen Bergmann und beschimpfte ihn als „Ausgeburt Israels“.

Ein Sprecher von Erdogans Regierungspartei AKP betonte, es gebe keine Beweise für die angebliche Ohrfeige. Ebenfalls in Soma hatte der Erdogan-Berater Yusuf Yerkel auf einen am Boden liegenden Demonstranten eingetreten. AKP-Sprecher Hüseyin Celik erklärte, bei Yerkels Fußtritt handele es sich um „legitime Selbstverteidigung“.

Die Opferzahl stieg auf 302

Rund 500 Rettungskräfte waren am Freitag in Soma weiter im Einsatz, um die letzten verschütteten Bergleute aus der Kohlegrube zu bergen. Laut Energieminister Taner Yildiz wurden noch maximal 18 Kumpel vermisst, für die es praktisch keine Überlebenschance mehr gab. Die endgültige Opferzahl des Unglücks werde vermutlich bei 302 liegen.

Das Unglück und die dadurch ausgelöste Kritik kommt für Erdogan zur Unzeit, er will in den kommenden Wochen voraussichtlich seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl im August ankündigen. Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Guntram Schneider (SPD) forderte Erdogan auf, auf einen am 24. Mai in der Kölner Lanxess-Arena geplanten Auftritt zu verzichten. NRW sei sei „der falsche Ort für Erdogans Wahlkampfauftritte“, sagte Schneider der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“.

Auftritt Erdogan: Türken in Deutschland dürfen wählen

Bei der Wahl des türkischen Präsidenten am 10. August können erstmals auch im Ausland lebende Türken ihre Stimme abgeben. Von den fünf Millionen in Deutschland lebenden Auslandstürken wohnen die meisten in NRW. Erdogan will in Köln offiziell zum zehnjährigen Bestehen der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) reden.

Die Regierungspartei AKP hat unterdessen einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss beantragt. Das ranghohe Parteimitglied Hüseyin Celik bekräftigte aber auch, dass aus Sicht der AKP die Regierung sich nichts zuschulden habe kommen lassen: „Wir haben kein Inspektions- und Aufsichtsproblem“.

Bergwerksbesitzer Alp Gürkan sagte, er habe privates Geld gegeben, um die Sicherheitsstandards in dem Bergwerk zu verbessern. „Es schmerzt in meinem Innersten“, sagte er auf einer Pressekonferenz. Er hoffe, dass der Betrieb in Soma wieder aufgenommen werden könne, wenn alle von Inspektoren gefundenen Probleme beseitigt worden seien.

Geschäftsführer Ramazan Dogru wies die bisherige Version zurück, eine Explosion in einer Trafostation habe das Unglück ausgelöst. „Es war ein nicht geklärter Funke„, erklärte er. „Wir glauben, das Feuer breitete sich durch Eintritt frischer Luft aus.“