Nach dem Grubenunglück steht den Menschen der Schock ins Gesicht geschrieben. Doch wenn die Retter abgezogen sind, müssen die Bergleute wieder unter Tage. Die Wut auf Ministerpräsident Erdogan wächst.

Die Familie von Mehmet Asher hatte großes Glück. Sein Schwager wurde lebend aus dem Unglücksbergwerk im türkischen Soma gerettet. Zehn Stunden lang war er unter Tage gefangen. Viele andere schafften es dagegen nicht: Mindestens 284 Tote hat das schwerste Grubenunglück in der Geschichte der Türkei bislang gefordert.

Die Opferzahl könnte allerdings noch weiter steigen. Nach Angaben der Regierung werden in der Unglücksmine noch bis zu 18 verschüttete Kumpel vermutet. Das sagte Energieminister Taner Yildiz am Freitag, der aber erkennen ließ, dass die Eingeschlossenen höchstwahrscheinlich tot sind.

Gegen die Regierung und insbesondere gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan richtete sich neue Kritik. Erdogan wurde vorgeworfen, er habe einen jungen Mann in Soma, dem Ort der Katastrophe, geohrfeigt. Türkische Oppositionspolitiker und Internetaktivisten empörten sich. Die Szene soll auf einem Video festgehalten sein – allerdings ist die Sequenz verwackelt, so dass Erdogans Verhalten nur undeutlich zu erkennen ist.

Erdogan war bei seinem Auftritt in Soma von einer Menschenmenge ausgebuht und ausgepfiffen worden. Sicherheitskräfte bahnten ihm den Weg durch Demonstranten in ein Geschäft. Dort kam es zur Konfrontation mit einem jungen Mann. Dieser sagte, der Ministerpräsident habe ihn unbeabsichtigt geschlagen, weil dieser wütend auf die Demonstranten gewesen und die Kontrolle verloren habe. „Ich werde den Herrn Ministerpräsidenten nicht anzeigen. Ich erwarte nur eine Entschuldigung“, sagte Taner Kuruca.

Oppositionspolitiker kritisierten Erdogan. „Das ist unser Ministerpräsident, den wir sehr gut kennen. Alle über Manieren belehren, aber sich selbst unverschämt verhalten“, sagte der CHP-Politiker Gürsel Tekin.

"Es ist kein Unfall, es ist Mord"


Die Überlebenden hätten Schlimmes durchgemacht, berichtet Asher, während er vor der Leichenhalle in der Nachbarstadt Kirkagac steht, wo die Toten für die Beisetzung vorbereitet werden. Die Kumpel sahen ihre Freunde und Kollegen sterben. Sie waren umgeben von Feuer und Rauch. Den Bergleuten bleibt trotzdem keine Wahl. „Mein Schwager sagt, er muss zurück in die Zeche, denn sie brauchen das Geld“, sagt Asher. „Er hat noch zwei Jahre bis zur Rente. Er muss da wieder runter.“

Kohle ist in Soma allgegenwärtig. Das wird auch im Krankenhaus der Stadt klar, wo die Überlebenden des Unglücks behandelt werden. Eingraviert auf der Außenwand sind die Worte: „Die Menschen geben ihr ganzes Leben für eine Handvoll Kohle.“ Daneben sind zwei gekreuzte Spitzhacken zu sehen.

Am Donnerstag wurden weitere Hinweise auf den Todeskampf eingeschlossener Kumpel bekannt. Die Nachrichtenagentur Dogan berichtete unter Berufung auf Rettungskräfte, 14 Arbeiter hätten in dem einzigen Schutzraum der Zeche Zuflucht gesucht. In dem fünf Quadratmeter großen Raum hätten sie sich an den Masken abgewechselt, bis der Sauerstoff aufgebraucht gewesen sei. Die Retter hätten die 14 Leichen übereinanderliegend gefunden. Wie viele Bergleute noch unter Tage eingeschlossen sind, war gestern unklar.

Nach Medienberichten hatte ein elektrischer Defekt in einem Trafo eine Explosion und dann einen Brand verursacht, der nach Angaben von Energieminister Yildiz in 150 Metern Tiefe ausbrach. Bei der Explosion seien 80 Menschen verletzt worden, 27 davon würden noch im Krankenhaus behandelt, sagte Yildiz. Zum Zeitpunkt des Unglücks am Dienstagnachmittag seien 787 Arbeiter in der Zeche gewesen. 450 von ihnen konnten laut der Betreibergesellschaft gerettet werden.

Menschen demonstrieren mit Sitzblockade


Während die Rettungsarbeiten weiterlaufen, schlägt dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan eine Welle der Empörung entgegen. Erdogan hatte die schlechte Sicherheitsbilanz der Kohlenbergwerke in seinem Land nach einem Besuch am Katastrophenort am Mittwoch heruntergespielt. „Solche Unfälle passieren ständig“, sagte er. „Ich schaue zurück in die englische Vergangenheit, wo 1862 in einem Bergwerk 204 Menschen starben.“ Daraufhin gingen in Istanbul am Mittwochabend Tausende Menschen auf die Straße. Sie forderten in Sprechchören den Rücktritt der Regierung. Diese habe trotz Sicherheitsbedenken eine schützende Hand über das Kohlenbergwerk gehalten.

Am Donnerstag demonstrierten Menschen in Istanbul mit einer Sitzblockade. Auf ihren Transparenten stand: „Es ist kein Unfall, es ist kein Schicksal, es ist Mord!“ und „Unsere Herzen brennen in Soma“. In Izmir gingen Polizisten mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vor. Berichte über Proteste gab es auch aus Mersin und Antalya.

Die vier Gewerkschaftsverbände riefen zu einem landesweiten Streik auf. Sie beschuldigen Erdogans Regierung, die Lage in den vergangenen Jahren mit der Privatisierung verschlimmert zu haben, die in der Branche zum Einsatz von „Sub- und Subsubunternehmern“ geführt habe. „Hunderte unserer Kollegen in Soma wurden von Anfang an dem Tod überlassen, indem sie gezwungen wurden, unter brutalen Arbeitsbedingungen zu schuften, damit die höchsten Gewinne erreicht werden“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Gewerkschaften.

Die Wut über die Regierung wurde am Donnerstag durch ein Foto geschürt, das über soziale Medien verbreitet wird. Darauf ist zu sehen, wie der Erdogan-Berater Yusuf Yerkel zum Tritt ausholt, während zwei Sicherheitskräfte einen Mann am Boden festhalten. Yerkel hatte am Mittwoch Erdogan bei einem Besuch in Soma begleitet. Dabei war es zu Protesten gegen den Ministerpräsidenten gekommen. Yerkel bestätigte dem türkischen Dienst der BBC, dass er auf dem Bild zu sehen sei. Türkischen Medienberichten zufolge sagte er, bei dem Mann habe es sich um einen militanten Linken gehandelt, der ihn und Erdogan angegriffen und beleidigt habe.

Rahmenbedingungen seien wie in Deutschland vor 40 Jahren


Türkische Medien hatten berichtet, die Regierungspartei AKP habe im vergangenen Monat Forderungen der Opposition zurückgewiesen, die Sicherheitsvorkehrungen an der Zeche Soma zu überprüfen. Die Bergwerksgesellschaft teilte mit, die letzte Überprüfung habe vor zwei Monaten stattgefunden.

Die Sicherheitstechnik in türkischen Bergwerken ist nach Ansicht der deutschen Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) nicht auf dem heutigen Stand. In der Türkei gelte das Motto: „Produktivität vor Sicherheit“, sagte der Abteilungsleiter Bergbau, Ralf Bartels. Die Rahmenbedingungen in der Türkei seien etwa so wie in Deutschland vor 40 oder 50 Jahren, sagte Bartels. „In der Türkei herrscht die Einstellung, dass tödliche Unfälle zum Bergbau gehören. Es gibt zwar moderne Fördertechnik. Aber es fehlt an sicherer Sprengtechnik. Und es fehlt an sicherer Technik, um Unfälle durch Methangas zu verhindern.“

Methan rieche man nicht, erläuterte Bartels. Aber der kleinste Funke reiche aus für eine Explosion. „Solche Methan-Explosionen mit Dutzenden Toten hat es in den vergangenen Jahren in türkischen Bergwerken immer wieder gegeben. Die jetzige Katastrophe ist das jüngste Glied in einer langen Kette schrecklicher Grubenunfälle. Dabei hat es immer wieder Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen gegeben.“

Türkische Gewerkschafter, die auf Sicherheitsmängel in Bergwerken hinwiesen, würden als Zeitvergeuder ausgelacht. „Dahinter steckt die Idee: Mach mehr Kohle, sei produktiver, indem du dich nicht an die Sicherheitsbestimmungen hältst“, sagte Bartels.

Grünen-Chef Cem Özdemir forderte Ministerpräsident Erdogan zu einer konsequenten Aufklärung. „Es muss jetzt eine ernsthafte, neutrale Untersuchung des Unglücks und explizit auch der möglichen Versäumnisse und Verantwortung der Regierung geben, mit entsprechenden Konsequenzen“, sagte Özdemir am Donnerstag. Erdogan sei „auch der Ministerpräsident der Bergarbeiter und nicht nur der Konzerne“. Gesetze müssten in die Tat umgesetzt werden und dürften nicht nur auf dem Papier bestehen. „Das Unglück zeigt auch, dass die Türkei in Sachen Sicherheit und Arbeitsschutz dringend aufholen muss“, sagte der Grünen-Chef.

Türkei will Katastrophe aufklären


Eine Aufklärung der Katastrophe kündigte der türkische Staatspräsident Abdullah Gül an. Die Untersuchungen haben schon begonnen“, sagte Gül am Donnerstag nach einem Besuch an der Unglückszeche. „Sie werden mit großer Sorgfalt weitergeführt.“ Der Staatspräsident sprach den Angehörigen der Opfer sein Beileid aus. „Es ist ein großer Schmerz, und es ist unser aller Schmerz.“ Er betonte die Notwendigkeit umzudenken. „So wie entwickelte Länder diese schmerzlichen Ereignisse nicht mehr erleben müssen, so müssen auch wir unsere Vorschriften ändern und Vorkehrungen treffen“, sagte er.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass der 63-jährige Gül bei der Präsidentschaftswahl im August gerne noch einmal antreten würde. Doch der drei Jahre jüngere Erdogan strebt ebenfalls das höchste Staatsamt an. Ob Gül zugunsten seines politischen Weggefährten Erdogan auf seinen Posten verzichten wird, ist noch nicht klar.

Am Unglücksort haben die Familien der getöteten Kumpel begonnen, ihre Männer, Väter, Brüder oder Onkel beizusetzen. Den Bewohnern Somas steht eine endlos scheinende Reihe von Begräbnissen bevor. „Wir haben gestern 120 Gräber ausgehoben. Heute waren es noch mal mehr als 100“, sagt Özcan. Der Bauer aus einem Dorf in der Nähe des türkischen Unglücksbergwerks in Soma ist einer von vielen Freiwilligen, die bei der Bestattung der Toten helfen. Jeder Trauerprozession schreitet ein Mann voran, der eine gelbe Karte mit dem Namen des Opfers hochhält. Es soll trotz Chaos und hundertfachen Leids keine Verwechslungen geben.

„Mein Bruder ist vor acht Jahren bei einem Unglück in dem Bergwerk ums Leben gekommen“, erzählt Özcan, der seinen vollen Namen nicht nennen will. „Ich kenne diesen Schmerz besser als andere. Ich musste kommen.“

„Im Bergbau gibt es die einzigen Jobs hier in der Gegend“


Die 22-jährige Duygu Colak ist verzweifelt. Ihr Mann Ugur, 25, wurde gerade beigesetzt. „Ich habe im Krankenhaus 30 Stunden auf Informationen gewartet. Sie haben ihn gestern aus der Zeche geborgen.“ Nun weiß die junge Witwe nicht, wie es für sie und ihre 18 und fünf Monate alten Söhne weitergehen soll. Sie hat kein eigenes Einkommen. Ugur hatte die Familie mit seiner Arbeit in der Mine ernährt.

Selbst der höchstbezahlte Bergarbeiter verdient umgerechnet nur etwa 440 Euro im Monat. Viele machen Schulden, um Miete, Stromrechnung und Schulgeld bezahlen zu können.

„Im Bergbau gibt es die einzigen Jobs hier in der Gegend“, sagt Cenar Karamfil. Er habe früher selbst in der Zeche gearbeitet. „Die Arbeitsbedingungen im Bergwerk sind sehr hart. Es ist so heiß, man schwitzt und kann kaum atmen“, sagt er. „Aber die Männer werden wieder hinuntergehen. Sie brauchen die Arbeit, denn sie müssen ihre Schulden bezahlen.“ Karamfil verließ seinerzeit Soma und arbeitet nun als Elektriker in Istanbul. Als er von dem Unglück hörte, kam er zurück nach Hause.

In der Nähe wartet ein Ehepaar auf Neuigkeiten. Der Vater seines besten Freundes sei Bergmann, erzählt der Mann. Freunde und Familie hoffen immer noch, dass der Vater überlebt haben könnte. Seine Frau ist wütend auf die Regierung, vor allem auf Ministerpräsident Erdogan. Die Regierung habe in Soma Unsummen für eine neue Veranstaltungshalle ausgegeben. „Warum haben sie das Geld nicht in mehr Sicherheit investiert? Die Kumpel sind ein wichtiger Teil dieser Stadt, und sie nehmen viele Kredite auf. Wer wird nun ihre Schulden abbezahlen? Wer hat noch Geld zum Einkaufen?“

Auf dem Friedhof sitzt die acht Jahre alte Rüveyda und starrt auf das Geschehen. Ihr Vater ist tot. Fahrzeuge bringen ständig weitere Leichen. Özcan hebt derweil ein weiteres Grab aus.