Stundenlang hielt ein Stalker drei Menschen im Ingolstädter Rathaus in seiner Gewalt. Während die Stalking-Opferhilfe schärfere Gesetze fordert, lehnt die Polizei-Gewerkschaft strengere Sicherheitsmaßnahmen ab.

Ingolstadt/München/Nürnberg. Der Geiselnehmer von Ingolstadt kommt in Untersuchungshaft. Ein Ermittlungsrichter erließ am Dienstag Haftbefehl, wie die Polizei mitteilte. Der Richter sei dazu in das Krankenhaus gekommen, in dem der wegen Stalkings vorbestrafte Mann wegen seiner Schussverletzungen behandelt wurde. Der 24-Jährige werde baldmöglichst in ein Gefängnis verlegt.

Nach dem Geiseldrama hat die Deutsche Stalking-Opferhilfe schärfere Gesetze gefordert. „Bisher haben wir das Problem, dass der Stalking-Paragraf nicht richtig greift“, sagte die Vorsitzende des Vereins, Erika Schindecker, der „Süddeutschen Zeitung“ .

„Die Hürden sind zu hoch. Erst muss etwas ganz Schlimmes passieren, bis ermittelt wird.“ Schärfere Gesetze könnten manchen Stalker davon abhalten, massiv gegen das Opfer vorzugehen, sagte Schindecker. In Deutschland gebe es jährlich schätzungsweise zwischen 600.000 und 800.000 Fälle von Nachstellungen.

Auch Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) fordert schärfere Gesetze gegen Stalker. Der 2007 auf bayerische Initiative eingeführte Stalking-Straftatbestand reiche noch nicht aus, sagte Merk der „Augsburger Allgemeinen“.

Das jetzige Gesetz gegen Stalking greife erst, „wenn das Opfer durch die Tat schwerwiegend in seiner Lebensgestaltung beeinträchtigt worden ist, also zum Beispiel sein Handy oder die Arbeitsstelle wechselt, umzieht oder bestimmte Orte nicht mehr aufsucht“, sagte Merk. Es komme jedoch nicht darauf an, wie stark ein Opfer seelisch belastet werde. „Es muss reichen, dass die Attacken eines Stalkers geeignet sind, die Lebensführung des Opfers schwerwiegend zu beeinträchtigen“, forderte die Justizministerin.

Die Geiselnahme im Rathaus von Ingolstadt war am Montagnachmittag nach neun Stunden beendet worden. Bei einem Zugriff der Polizei wurden die Geiseln unversehrt befreit und der Geiselnehmer angeschossen. Der Täter soll am Dienstag dem Haftrichter vorgeführt werden.

Der vorbestrafte Stalker hatte laut Polizei schon längere Zeit massive psychische Probleme. Eine der Geiseln des 24-Jährigen war eine Rathausmitarbeiterin, die zuvor Opfer von Nachstellungen des Täters geworden war. „Hintergrund der Geiselnahme ist eine sogenannte Stalking-Geschichte“, erklärte die Polizei.

Gewerkschaft lehnt Sicherheitsverschärfung ab

Polizei-Gewerkschafter und der Bayerische Städtetag haben sich nach der Tat gegen verschärfte Sicherheitsmaßnahmen in Rathäusern ausgesprochen. Die Tat in Ingolstadt sei ein Einzelfall gewesen. „Jetzt sofort verstärkte Sicherheitsmaßnahmen in Rathäusern zu fordern, halte ich für übertrieben“, sagte der stellvertretende bayerische Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Peter Schall.

Sollten sich solche Fälle künftig jedoch häufen, müssten die Sicherheitskonzepte dann doch auf den Prüfstand gestellt werden, sagte Schall. Grundsätzlich sollten Rathäuser aber weiterhin offene Gebäude sein, die von jedem Bürger ohne Leibesvisitation betreten werden können, fügte der GdP-Funktionär hinzu. Dieser Einschätzung schloss sich der bayerische Ableger der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) an. „Ich sehe nicht, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, nach verstärkter Sicherheit in Rathäusern zu rufen“, sagte DPoLG-Sprecher Rainer Schaller.

Als „schwieriges Spannungsfeld“ betrachtet der Bayerische Städtetag die Sicherheit in den Rathäusern. „Einerseits muss es natürlich Schutzmaßnahmen für die Mitarbeiter in den Rathäusern geben“, sagte Städtetags-Sprecher Achim Sing. „Andererseits dürfen die Rathäuser nicht zu abgeschotteten Bastionen werden.“ Sie müssten offen für die Bürger bleiben.

Spätestens seit dem Messerangriff auf eine Jobcenter-Mitarbeiterin in Neuss in Nordrhein-Westfalen sucht die Bundesagentur für Arbeit (BA) nach Möglichkeiten, um die Sicherheit zu erhöhen. In allen Arbeitsagenturen und Jobcentern, die teils in Rathäusern untergebracht sind, gibt es nach BA-Angaben inzwischen ein Sicherheitssystem. Es stehe den Jobcentern frei, eigene Sicherheitsdienste anzuheuern. Vorrangig setze die BA aber auf Deeskalationsstrategien: In Kursen erhielten Mitarbeiter das Rüstzeug, um beschwichtigend auf gewaltbereite Arbeitslose einzuwirken.

Vorwurf der sexuellen Belästigung

Der 24-jährige Geiselnehmer hatte am Montag zunächst vier Menschen in seiner Gewalt. Seine erste Geisel ließ er rasch frei. Mehrere Stunden nach Beginn des Dramas kam am frühen Nachmittag auch Ingolstadts Dritter Bürgermeister Sepp Mißlbeck nach langwierigen Verhandlungen frei. Die beiden letzten Geiseln wurden bei dem Polizeieinsatz am Abend nicht verletzt.

Wegen des Stalkings der Frau hatte der Mann Hausverbot im Rathaus. In den vergangenen Wochen sei der Konflikt eskaliert, nachdem er gegen das Verbot verstoßen habe. Der 24-Jährige soll auch mehrere Angestellte der Stadt bedroht und Mitarbeiterinnen sexuell belästigt haben. Noch vor wenigen Wochen war der wohnsitzlose Mann in psychiatrischer Behandlung.

Ende Juli wurde er wegen Stalkings, Beleidigung und Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Laut einem Gutachter war damals nicht zu erwarten, dass der Mann eine schwerwiegende Straftat begeht.