Die 66. Filmspiele von Cannes sind eröffnet, so ungemütlich wie Berlin im Februar. Und während sich manche über Leonardo DiCaprios Bart lustig machen, tut er dasselbe mit französischen Journalisten.

Cannes. Die erste Enttäuschung ist dieser Bart. Gerade war Leonardo DiCaprio noch ein bartloser Gatsby in 3-D. Sah super aus, der Mann, inzwischen 38, gereift und als Schauspieler auf der Höhe seiner Kunst.

Aber kaum haben wir die Pressevorführung des Eröffnungsfilmes „The Great Gatsby“ im Palais des Festivals von Cannes verlassen und die 3-D-Brille ordnungsgemäß in den Recyclingcontainer geworfen, stolpern wir dem echten Leonardo DiCaprio beim „Photo-Call“ beinahe in die Arme - und er hat diesen fürchterlichen Kinnbart.

Den selben mit dem Brad Pitt seit Monaten weltweit in Duty-Free-Shops auf den Chanel-No.-5-Plakaten mehrere Sinnesorgane simultan belästigt. Als der Tagesschau-Sprecher Karl Heinz Köpcke in den 70er-Jahren mal auf die Idee kam, sich im Urlaub einen Bart wachsen zu lassen, führten massive Kundenproteste zu einer umgehenden Vollrasur. Damals hieß das allerdings noch nicht Shitstorm, sondern Zuschauerpost.

Leos Star-Qualitäten

DiCaprio hängt aber wahrscheinlich eh nicht besonders oft aus Langeweile auf seiner eigenen Facebook-Seite herum, deshalb dürften Beschwerden mit der Betreffzeile „Flaum“ ins Leere gehen. Und seine Bewunderer werden unter Umständen mit seiner fusseligen Kinnfrisurlaune noch eine Weile leben müssen.

Dessen ungeachtet bewies er am Abend auf dem roten Teppich vor dem Palais des Festivals echte Star-Qualitäten. Und das ist es schließlich, worauf es beim größten, glamourösesten und schlechtest-organisierten Filmfestival der Welt ankommt.

Das Schöne an der an sich ja recht albernen Übung – aus einem Auto aussteigen, Jubelpublikum hinter den Barrikaden wenigstens kurz begrüßen, über den roten Teppich stolzieren, vor kreischenden Fotografen kurz bremsen, posen und dann unfallfrei die Stufen zum Palast hochstaksen – ist ja, dass sich gerade hier die Sternchenspreu vom Starweizen trennt.

„Au du ju fièlle?“

DiCaprio kann es, steigt aus, schreibt erst einmal ein paar Autogramme für Leute, die drei Stunden im Regen hinter einem Absperrgitter zugebracht haben und nun glückselig starhagelvoll in Ohnmacht fallen dürfen.

Dann wimmelt er einen lästigen französischen Reporter, der ihm irgendeine bescheuerte „How do you feel?“-Frage stellt, die wie „Au du ju fièlle?“ klingt, mit der eleganten Antwort ab „I can’t understand a word you’re saying“. Und schließlich defiliert er gelassen an der Fotografenriege vorbei. Äußerst sparsam in Mimik und Gestik. Ich bin ein Star. Holt mich bloß nie hier raus. Der Mann ist übrigens gerade Single.

Isn’t-It-Girl Cara Delevigne

Weit weniger souverän hingegen das in letzter Zeit medial leicht überexponierte Isn’t-It-Girl Cara Delevigne, die sich zwar wacker grimassierend vor den Fotografen abmühte als femme quasi fatale soziale Anerkennung zu erlangen, aber es langt leider noch nicht ganz.

Nicole Kidman indes, das muss man dem Jury-Mitglied lassen, beherrscht die Übung beinah so gut wie der Kollege Di Caprio. Auch sie sah überraschend super und relativ echt aus, trug ein silbriges Kleid mit einem blumigen Bustier und beantwortete die obligatorisch bescheuerte Teppichreporterfrage mit dem hübschen Satz. „Ich fühl mich wie Mary Poppins, Ich fliege gleich weg.“ Das Wetter war nämlich leider katastrophenfilmtauglich.

Der Reporter schickte ihr den nicht übermäßig charmanten Satz hinterher, sie habe mit ihrer Rolle in „Paperboy“ im vergangenen Jahr doch den „zweiten Teil ihrer Karriere“ vielversprechend eingeläutet. Will sagen: Sie geht aufs Alterswerk zu.

Wie Berlin im Februar

Cannes im Mai sah ansonsten ungefähr so aus wie Berlin im Februar. Ziemlich genau in dem Moment, als die glücklichen Inhaber von Karten zur Eröffnungsgala vor dem Festivalpalast vorfuhren, begann der Himmel sich zu öffnen, die afrikanische Schirmverkäufergewerkschaft besetze umgehend sämtliche strategisch wichtigen Posten auf der Croisette, und die Tänzertruppe aus dem „Great Gatsby“, die in ihren stilechten Jazz-Age Kostümen in Studebaker- (oder vielleicht waren es auch Dodge-)Cabrios vorfuhr, musste schon einige Mühe aufwenden, die epochengemäße Euphorie beizubehalten.

Drinnen im Saal erklärte derweil Leonardo DiCaprio gemeinsam mit seinem indischen Schauspieler-Kollegen Amitabh Bachchan (der in Baz Luhrmanns „Gatsby“ den Gangster Wolfsheim spielt) die 66. Filmfestspiele von Cannes für eröffnet.

Für den 70-Jährigen Bollywood-Star war die Rolle übrigens die erste in Hollywood. Als Startschuss für eine späte amerikanische Karriere wollte Bachchan das Engagement indes nicht sehen. Er nahm es eher als „freundliche Geste und freute sich, dass er zum „100. Geburtstag des indischen Kinos“ in Cannes dabei sein durfte. Zudem zeigte er DiCaprio, wie ein ernst zu nehmender Kinnbart auszusehen hat.

Spielberg von Amélie geschmeichelt

Audrey Tautou, die ewige Amélie, hatte etwas bezaubernd-fusseliges Weißes an und führte als Zeremonienmeisterin durch den Abend. Ihren Text hatte sie selbst geschrieben und vorsichtshalber auswendig gelernt, denn vor dem Jury-Präsidenten Steven Spielberg, so räumte sie ein, war sie fürchterlich aufgeregt.

Spielberg zeigte sich geschmeichelt, dass er in seinem 66. Lebensjahr der Jury des 66. Filmfestivals von Cannes vorstehen darf, und freute sich auf die Zusammenarbeit mit einer „wahrhaft multikulturellen“ Jury.

Als Vertreter des ehemaligen Vielvölkerstaates Österreich ist der doppelte Oscar-Preisträger Christoph Waltz dabei, außerdem der taiwanesische Regisseure Ang Lee, die japanische Regisseurin Naomi Kawase, der rumänische Goldene-Palmen-Gewinner von 2007, Cristian Mungiu, und die indische Schauspielerin Vidya Balan.

Aus dem guten alten Europa komplettieren der französische Schauspieler und Regisseur Daniel Auteuil und die britische Regisseurin Lynne Ramsay Spielbergs Equipe. Palmen und eventuell wieder Sonne gibt es dann am Sonntag in zehn Tagen.