Der frivole Hedonismus und sein Scheitern: Der neu verfilmte „Große Gatsby“ erzählt davon besser als bislang jeder andere Stoff. Der 2013er-Gatsby schlägt alle Vorgänger locker.

Hamburg. In dem berühmten Roman „Der große Gatsby“ ist Style alles, der richtige Drink, das ästhetische Statement: gerne auch mit eigenen Initialen auf dem Eingangstor. Klar geht es in der Geschichte des tragisch liebenden Aufsteigers Jay Gatsby auch um die romantische Begabung eines Mannes – aber wie unsexy wäre der bitte, lebte er zur Untermiete in Buxtehude? Gatsby, der Provinzamerikaner aus dem Mittleren Westen, bewohnt ein schlossartiges Anwesen auf Long Island, eine prächtige Hütte mit barockem Gelände, auf der feierwütige Großstädter ordentlich Auslauf bekommen.

Es ist der Gesellschaftstanz der Reichen und Schönen, der auf diesem Parkett aufgeführt wird: alle angetrieben von dem Begehren, dazuzugehören. Im Kino wird von dieser Sehnsucht gerade wieder erzählt, Regisseur Baz Luhrmann hat mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle den 1925 erschienenen Roman von F. Scott Fitzgerald neu verfilmt. Heute Abend wird das Filmfest in Cannes mit „Der große Gatsby“ eröffnet. Es ist die inzwischen fünfte Film-Adaption des Stoffes, der wie alle Klassiker zeitlos ist. Die bislang bekannteste ist die von 1974 mit Robert Redford und Mia Farrow, aber: Der 2013er-Gatsby schlägt alle Vorgänger locker. Was daran liegen könnte, dass Luhrmann ein Experte für Literaturverfilmungen („Romeo und Julia“) ist, aber auch dem Kostümfetisch unserer Gegenwart („Mad Men“, „Pan Am“) geschuldet ist. Retro ist schwer angesagt dieser Tage, weil die Vergangenheit immer etwas Traumartiges hat. Die Zeitspanne zwischen damals und heute legt sich wie Watte um die Jahre, und derart abgefedert wirkt dann das Früher wie ein besseres Heute, es kann ja auch jederzeit wieder verlassen werden.

Der große Zeremonienmeister Gatsby, der selbst im Hintergrund bleibt, während sich New Yorks standesbewusste High Society und unbeschwerte Jugend treffen, ist ein Bewohner der Epoche, die man in Amerika das „Jazz Age“ nennt. In den Jahren zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre wurden Jazz und Charleston entdeckt, die Wegbereiter waren für einen hedonistischen Lebensstil und die Popkultur. Luhrmanns Porträt der „Roaring Twenties“ wird übrigens mit einem gleichzeitig einfachen und gewaltigen Kniff verzerrt: Der Soundtrack (Jay Z., Lana Del Rey, The XX) bedient sich bei Disco und Hip-Hop, also Pop-Spielarten der Jetztzeit. Formal ist dieser „Gatsby“ also ein Bastard, und auch die Anleihen der Bildsprache bei Musical und Comic stehen für die Überzeitlichkeit und formale Anschlussfähigkeit des Stoffs. „Gatsby“ erzählt von der Sehnsucht, „Gatsby“ erzählt vom Geld.

Und gerade was letzteres angeht, passt die Wiederaufbereitung des Themas ganz hervorragend ins Jahr 2013. Der Sommer der unerfüllten Liebe ist im „Großen Gatsby“, dessen Titelfigur doch eigentlich vor allem auch ein großer Blender ist, im Jahr 1922 angesiedelt. Dass der aus kleinen Verhältnissen entstammende sinistre Geschäftsmann Gatsby, um dessen Herkunft sich einige Mythen ranken (die zwielichtige Aura wird durch seine deutsche Provenienz unterstrichen), seine Ziele ziemlich strikt verfolgen kann, liegt nur an den Penunzen, die er gescheffelt hat. Gatsby liebt Daisy, eine Tochter der Upperclass, und verliert sie nach einer kurzen Affäre aus den Augen. Fünf Jahre sieht er Daisy nicht, sie heiratet einen anderen und verbessert sich in eine noch einmal höhere Kaste als die eigene – in den stinkreichen Geldadel.

Um ihr Herz zurückzugewinnen, erfindet sich Gatsby als Schnösel neu: Fitzgeralds libidomäßig so ambitionierte Figur des Prinzen Protz operiert mit den kriminellen Methoden des Schwarzhändlers; in einer Phase des Wall-Street-Booms, die sich im Börsencrash von 1928 auflöste. Der Romancier Fitzgerald sah die Weltwirtschaftskrise übrigens voraus, aber seine Helden wissen nichts davon. Sie blicken noch nicht in den Abgrund, ihre Lebensgier und ihr Verlangen nach Amüsement offenbaren dennoch eine Leerstelle, die später von dem Erstaunen darüber gefüllt werden wird, dass jede Party irgendwann vorbei sein muss. Jeder Sommer endet mit Wind und Laub, und in Luhrmanns „Gatsby“ fällt es besonders üppig von den Bäumen.

Die Doppelmoral der Gatsbys und Hoeneß gibt es zu allen Zeiten

Das Drama des skrupellosen Selfmademan Gatsby ist, dass er in eine Zeit hineingeboren wurde, in der die Gesellschaft noch nicht so durchlässig war wie heute. Er muss, weil reiche Mädchen vor 100 Jahren nie arme Jungs heirateten, zu Geld kommen. Er schafft das, weil er sich einem Verbrechersyndikat anschließt. Sein Geschäft ist noch schmutziger und prosaischer, als es der Bereich des Geldes eh schon ist, und so wirkt es umso verbohrter, wie Gatsby der Reinheit des großen Gefühls hinterherrennt und seiner Daisy damit Ansprüchen aussetzt, denen dieses vollendete und verwöhnte Luxusgeschöpf nicht standhalten kann.

Gatsby verkörpert sowohl die emotionale Unbedingtheit als auch die dekadente Ausschweifung, obwohl gerade er es ist, der am Feiern eigentlich gar nicht interessiert ist. Er gibt seiner Zeit mit ihren Menschen nur, was sie will. Was will unsere heutige Zeit?

Nicht immer auf das ewige Krisengerede hören. Als Jack Clayton seinen „Gatsby“ 1974 in die Kinos brachte, hatte die Ölkrise dem Wachstum des Westens erstmals Grenzen gesetzt. Der Luhrmann-„Gatsby“ kommt nun zu einem Zeitpunkt, an dem viele wegen der Implosion von Finanzmodellen und der Lethargie in den westlichen Ländern den Kapitalismus auf dem Prüfstand sehen. Und waren es in den 70ern die Hippies, die sich nach einer Phase der hochtourigen Politisierung aus der öffentlichen Arena wieder zurückzogen, sind heute die nach dem Finanzcrash kurzzeitig enorm wirksam trommelnden Occupy-Aktivisten längst wieder leiser geworden.

Im „Gatsby“ findet man beides: den frivolen Hedonismus und sein Scheitern. Und die Doppelmoral der Gatsbys, Maschmeyers und Hoeneß gibt es weiterhin, die Lust, gesellschaftlich zu reüssieren, wozu dann der Zweck die Mittel heiligen kann. Zumindest so lange, bis man auf die Nase fällt.