Schon vor Jahrtausenden gelangten Waren und Rohstoffe von der Ostsee bis an den Nil. Immer mehr Details des Fernhandels enträtselt.

Stammt der Bernstein, aus dem ein Skarabäus auf der Mumie von Pharao Tutanchamun (um 1320 v. Chr.) gefertigt wurde, tatsächlich von der Ostsee? Die ägyptischen Antikenbehörde hat zurzeit wohl andere Sorgen, als ausgerechnet diese Einschätzung des Tutanchamun-Entdeckers Howard Carter wissenschaftlich überprüfen zu lassen.

In Deutschland aber werden derzeit ältere archäologische Vermutungen verknüpft mit aktuellen Ausgrabungen und den hochmodernen Methoden heutiger Naturwissenschaften. Und so verdichten sich die Hinweise darauf, dass es in der Bronzezeit einen florierenden Fernhandel gegeben haben muss, weitaus umfangreicher als bisher vermutet: Gold aus Nubien und Ägypten gelangte über die Alpen bis nach Nordeuropa, und Bernstein, damals ein höchst geheimnisvolles Material, wurde in die Gegenrichtung bis ins Morgenland gehandelt.

In der ZDF-Reihe "Terra X" zeichnen die auf Archäologiethemen spezialisierte Hamburger Autorin Gisela Graichen und der Filmemacher Peter Prestel in einem Zweiteiler nach, wie die vielen kleinen Beweisstücke aus unterschiedlichsten Kulturen sich zu einem faszinierenden Bild einer Epoche zusammensetzen lassen, die überraschend mobil und weiträumig vernetzt war. Titel von Film und Buch: "Die Bernsteinstraße".

Bernstein ist ein Material, das die Menschen jener Zeit staunen machte. Leichter als Salzwasser kann es schwimmen, manche Sorten mit eingeschlossenen Luftbläschen sogar in Süßwasser. Er kann verbrennen, mit einem harzigen Duft. Wenn er poliert und durchsichtig ist, sieht man Einschlüsse darin, Insekten und kleine Pflanzenteile, die das noch flüssige Harz umschlossen hat. Das war zur Zeit der Bernsteinwälder, 35 bis 50 Millionen Jahre vor unserer Zeit. Bernstein, griechisch "elektron", lässt sich durch Reibung elektrisch aufladen und zieht leichte Gegenstände an - Staub, Fäden, Federn. Mysteriös, unerklärlich - kein Wunder, dass man Bernsteinstücke als "Tränen der Götter" bezeichnete, ihnen magische Eigenschaften zuschrieb.

Bernstein kommt in etlichen Teilen der Welt vor, von Mexiko bis China und Neuseeland, von Alaska bis zur Dominikanischen Republik. Doch in der damals bekannten Welt wurde er hauptsächlich an den östlichen Ostseeküsten gefunden, vom Meer aufgespült, in Stürmen auf den Strand getragen, im Erdboden versteckt. In so großen Mengen, dass mit ihm ein nennenswerter Handel möglich wurde.

Gisela Graichen selbst hat große Stücke an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste gefunden: "Wenn starker Ostwind herrschte, der den Meeresboden aufgewühlt hat, wenn sich dann das Wasser zurückzieht, bleibt der leichte Bernstein im Tang hängen - am besten schaut man dort, wo auch kleine schwarze Holzkohlestücke angeschwemmt sind. Dazwischen liegt er."

Sie rekonstruiert gemeinsam mit dem Archäologen Timo Ibsen von der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf den Weg des Bernsteins bis zu den Pharaonen. Ausgangspunkt der Dokumentation: Ägypten, wo in alten Beutelisten auch ein Wort gefunden wurde, das als "Bernstein" übersetzt wird.

Wichtige Stationen, die der Forscher Ibsen mit seinem VW-Bus ansteuert: Qatna in Syrien, wo ein kleiner Löwenkopf aus Bernstein von Tübinger Archäologen ausgegraben wurde. Vor Uluburun an der türkischen Küste fand sich baltischer Bernstein im Wrack eines 1982 entdeckten Frachtschiffs, das um 1400 v. Chr. gesunken war. Neben einer internationalen Ladung von Kupfer aus Zypern und Zinn (geladen im Verhältnis, in dem sich daraus Bronze herstellen lässt) waren darin Elfenbein, Blauglas, Lebensmittel, Keramik, Gold, ein goldener Skarabäus der Nofretete, Straußeneier und Ebenholz - und fünf Bernsteinperlen von der Ostsee.

Gisela Graichen sagt: "Eine ganze Reihe von Ausgrabungen zeigt uns: Zinn und Kupfer, Bronze und eben Bernstein waren so etwas wie eine gemeinsame Währung im Handel vom heutigen Mecklenburg-Vorpommern bis nach England und über die Alpen bis nach Südeuropa."

Bernstein war selten und wertvoll. Heinrich Schliemann grub in Troja gerade mal zwei Bernstein-Perlen aus. Und in Mykene, das Timo Ibsen als "World Trade Center der Bronzezeit" bezeichnet, wurden neben der sogenannten Goldmaske des Agamemnon auch Halsketten von Perlen aus baltischem Bernstein gefunden. Natürlich gibt es auch in Mykene Beweise für Verbindungen nach Ägypten.

Gefährliche Handelswege führten nach Norditalien und von dort über die Alpenpässe nach Norden. Wege, die von bronzezeitlichen Alpenfestungen gesichert wurden - wie der auf dem Padnal beim schweizerischen Savognin. Auch dort wurde ein Bernstein-Geschmeide geborgen. Genau wie in Ingolstadt, wo 1996 ein fürstliches Collier aus fast 3000 Bernstein-Perlen ans Tageslicht kam - verblüffend ähnlich dem gemalten Collier auf der Nofretete-Büste, bis hin zum Verschluss.

Und dann die unglaubliche Geschichte von Bernstorf 40 Kilometer nördlich von München, wo der Arzt und Hobbyarchäologe Manfred Moosauer der alten Legende über eine untergegangene, unermesslich reiche Stadt auf den Grund ging. Er fand am Ort einer schon 1904 entdeckten Wallanlage, der größten derzeit bekannten nördlich der Alpen, im Jahr 1998 Gold- und Bernsteinobjekte. Zwei Bernsteinstücke tragen Zeichen aus einer alten mykenischen Schrift, in eines ist ein Gesicht graviert, das der Goldmaske des Agamemnon ähnelt. Das Material erweist sich, das zeigt die Untersuchung in einem Labor in Essen, die mit einem Infrarotspektrometer völlig zerstörungsfrei möglich ist, als baltischer Bernstein.

Auch eine mit Sonnensymbolen verzierte Goldkrone weist auf Verbindungen nach Mykene. Ihr Gold stammt aus den Minen von Nubien, wo sich die Pharaonen mit dem Edelmetall versorgten. Die in einem Feuersturm untergegangene Großsiedlung war offenbar, sagen erste Untersuchungen, ein weiterer Knotenpunkt des damaligen Welthandels, über den der wertvolle Bernstein nach Mykene und weiter nach Ägypten gelangt ist.

Noch ein Puzzle-Teilchen: die 2,3 Kilo schwere bronzene Himmelsscheibe von Nebra, bei einer Raubgrabung 1999 im südlichen Sachsen-Anhalt ans Tageslicht gekommen und bisher die weltweit älteste Darstellung des Sternenhimmels. Ihr Kupfer stammt aus der Nähe von Salzburg, das Zinn ebenso wie das Gold der eingearbeiteten Sterne und Mondsicheln aus dem Fluss Carnon in Cornwall.

Und das Wissen um die astronomischen Zusammenhänge, das auf der Scheibe gespeichert ist? Es könnte auf den langen Handelswegen von den Hochkulturen Ägyptens und des Vorderen Orients hierhergelangt sein. Andererseits: Die Scheibe ist etwa 200 Jahre älter als die frühesten bis jetzt in Ägypten gefundenen Darstellungen des Sternenhimmels. Und noch einmal 3000 Jahre älter - und 2000 Jahre älter als Stonehenge! - ist das neusteinzeitliche Sonnenobservatorium von Goseck, unweit von Nebra, 1991 aus der Luft entdeckt, 2002 ausgegraben und inzwischen komplett restauriert. Waren die Barbaren im Norden doch nicht weniger klug als die Menschen der Hochkulturen am Mittelmeer und am Nil?

Ein Indiz auf reichen Handel könnte auch der 1913 entdeckte Goldschatz von Eberswalde nordöstlich von Berlin sein, 2,6 Kilo Gold aus der späten Bronzezeit. Wer solche Reichtümer in einer rohstoffarmen Gegend anhäufen konnte, wer sich modernste Bronzewaffen beschaffen oder die von weit her herangeschafften Bestandteile der Bronze erwerben konnte, der musste etwas Wertvolles im Austausch anbieten können. Professor Claus von Carnap-Bornheim, Direktor des Landesmuseums Schloss Gottorf: "Es sind die kleinen Bernsteinstücke, die der Motor dieser Entwicklung in der Bronzezeit waren."

Es sind faszinierende Einblicke, und die Indizienkette für den internationalen Bernsteinhandel der Bronzezeit ist inzwischen ziemlich dicht geknüpft. Dass die Filmmacher gleich den Sohn eines Pharao über 5000 Kilometer weit an die unwirtliche Ostsee reisen lassen, um endlich die Quelle des Bernsteins zu finden, mag den Gesetzen moderner Fernsehdokumentation geschuldet sein. Doch um 880 v. Chr. wird auf einem assyrischen Obelisken in Keilschrift berichtet, dass der König von Ninive, von wo es Handelswege nach Ägypten gab, tatsächlich seine Kaufleute an das Meer im Norden geschickt hat, um dort gelben Bernstein zu fischen. Da war die Bernsteinstraße offensichtlich schon über Jahrhunderte eine gängige Reiseroute.

Der finale Beweis für diese antike Verbindung von Ägypten zur Ostsee könnte erbracht werden, wenn die ägyptische Antikenverwaltung einer Untersuchung des Tutanchamun-Skarabäus in Essen zustimmen würde.

"Die Bernsteinstraße", Film von Gisela Graichen und Peter Prestel, ZDF, 14. und 21. Oktober, jeweils 19.30 Uhr

Gisela Graichen, Alexander Hesse: "Die Bernsteinstraße. Verborgene Handelswege zwischen Ostsee und Nil". Rowohlt, 368 S., 22,95 Euro