Verwüstete Häuser, verzweifelte Menschen: In und um Tschechiens Hauptstadt dauert die Katastrophe vom August beinahe unvermindert an

Prag. Nein, es war kein Krieg, auch wenn es fast so aussieht. Es war auch kein Erdbeben. Es war die Jahrhundertflut, die im Prager Stadtteil Karlin dieses Trümmerfeld hinterlassen hat. Und mittendrin lebt Zdenka Malkova (72). "Seit gestern habe ich wieder Strom", freut sie sich, als sei das ein Geschenk des Himmels. Aber das Telefon ist tot. Durchs Fenster schaut sie auf Ruinen, die einmal Häuser waren. Ihre U-Bahn-Station um die Ecke ist verwüstet. Und - schlimmer noch: "Die Praxis meines Arztes auch." So muss Zdenka Malkova, die seit Jahren gehbehindert ist, qualvolle Kilometer zurücklegen bis zu einem anderen Arzt.

Prag-Karlin - eine Geisterstadt. Es war der 12. August, als die Katastrophe hereinbrach, als die Moldau über die Ufer trat und die ganze Region überflutete. Zdenka Malkova war Tage zuvor mit ihrem Sohn aufs Land gefahren, um eine Woche Urlaub zu machen. Daraus wurden drei Monate. Ein Vierteljahr, das sie bei ihren Kindern vor den Toren Prags ausharren musste, bis die Behörden ihr dieser Tage die Rückkehr erlaubten.

Die Rentnerin erkannte ihr Viertel kaum wieder. Lebensmittelläden, Apotheken, Kneipen, Gemüsegeschäfte - alles fortgespült oder beschädigt und geschlossen. Auf den Straßen ist kaum jemand unterwegs, denn bisher durften nur wenige in ihre Wohnungen zurück, so wie Zdenka Malkova. Karlin ist buchstäblich auf Sand gebaut. Das Wasser hat den Untergrund weggespült und aufgeweicht. Manche der Häuser, die noch stehen, könnten jede Minute zusammenstürzen. Aber viele der ehemaligen Bewohner wollen das nicht wahrhaben. Vor etlichen Haustüren stehen Polizisten, um Rückkehrer aufzuhalten und sie - notfalls mit Gewalt - vor dem Tod zu bewahren.

So wie an diesem schaurigen Ort sieht es in vielen tschechischen Städten und Dörfern drei Monate nach der Jahrhundertflut noch so aus, als habe sich die Katastrophe erst vorgestern ereignet. Die Aufräumarbeiten haben kaum begonnen. Die Schäden sind so gewaltig, dass der tschechische Staat hoffnungslos überfordert ist: Mehr als 1500 Häuser wurden vollständig zerstört, 100 000 Gebäude schwer beschädigt. Und viele davon werden spätestens dann einstürzen, wenn der nahende Frost die Feuchtigkeit in den Mauer gefrieren lässt.

Deshalb hat sich die Medien-Initiative "Hamburg hilft den Flutopfern" entschlossen, bis zu 1,5 Millionen Euro aus dem Spendentopf für die Not leidende Bevölkerung Tschechiens zur Verfügung zu stellen. Allein in Prag, der "goldenen" Partnerstadt Hamburgs, mussten während der Flut 60 000 Einwohner ausquartiert werden, 25 000 von ihnen im Stadtteil Karlin. Diejenigen, die nicht bei Verwandten Unterschlupf gefunden haben, leben jetzt in Obdachlosenheimen.

Zum Beispiel Jan Ferenc (50). Mit seiner Frau Dana und den vier Kindern bewohnt er einen 30 Quadratmeter großen Raum mit lediglich fünf Feldbetten. Draußen im Hausflur steht ein Tisch mit einem Zwei-Platten-Kocher. Das ist die provisorische Küche, in der vier Familien ihr Essen zubereiten müssen. Nacheinander.

"Unser Haus ist als eines der ersten zusammengestürzt", erzählt Jan Ferenc. Gleich zu Beginn der Flut. Er habe nichts außer den Kleidern, die er am Leibe trage. Nichts wünsche er sich mehr als eine neue Wohnung. Wann er eine bekommt, ob noch dieses Jahr oder erst im nächsten? Er weiß es nicht. Zu viele Menschen sind obdachlos geworden. Viel zu wenige bezahlbare Wohnungen seien frei. Und so werde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als dieses Jahr Weihnachten in der Obdachlosenunterkunft zu feiern. Er muss schlucken, während seine Frau zu weinen beginnt.

Schlimmer noch als den Flutopfern in Prag geht es den Menschen in Dörfern wie Horin, Kly, Tuhan, Obristvi, Zalezlice und Dolny Berkovice - in der Region Melnik, eine Autostunde von der tschechischen Hauptstadt entfernt, dort, wo Elbe und Moldau zusammenfließen. Mit solcher Kraft prallten hier im August die Fluten beider Ströme aufeinander, dass sie zeitweise aufwärts flossen. Eine bis zu 10,50 Meter hohe Welle vernichtete 500 Häuser und beschädigte 200 so stark, dass sie abgerissen werden müssen.

Hinzu kommen immense Umweltschäden: Als wären sie verkohlt, ragen Bäume als schwarze, tote Gerippe in den Himmel. Es stinkt nach Moder und nach Diesel. Die Landwirte dort wissen nicht, ob sie je wieder ihre Felder werden bestellen können. Ein gelblich-brauner Film hat sich über den Landstrich gelegt, möglicherweise sind es Giftstoffe aus einem überfluteten Chemiewerk elbaufwärts.

Eines der betroffenen Dörfer ist Zalezlice. Hier lebt Wazlaw Vanous (62), der noch bis vor drei Monaten ein wunderschönes Haus besaß. Weiß getüncht war es, mit Garage und gepflegtem Vorgarten. Jetzt sind davon nur zwei Fotografien übrig. Auf seinem Grundstück hat Vanous einen Wohnwagen und einen Wohncontainer aufgestellt. Darin lebt er nun mit seiner Frau. Vanous klagt die Behörden an: Hätten die rechtzeitig vor dem Hochwasser gewarnt, hätte er noch sein Hab und Gut in Sicherheit bringen können. Doch es gab keine Warnung.

Umgerechnet 5000 Euro hat Vanous vom Staat an Entschädigung erhalten, 4500 von der Gemeinde. 65 000 Euro bräuchte er, um ein neues Haus zu bauen. Wie es weitergehen soll - er weiß es nicht. Nur so viel: Sein neues Haus soll woanders stehen. Vor allem höher! Noch einmal Opfer einer Flut zu werden, "dazu fehlt mir die Kraft".

Vanous und den vielen anderen soll nun geholfen werden. Eine Delegation der Initiative "Hamburg hilft den Flutopfern" hat jetzt die ersten Spenden dorthin gebracht. Abendblatt-Herausgeber Peter Kruse und Knut Fleckenstein, Landesgeschäftsführer des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB), übergaben 250 000 Euro dem Malteser Hilfsdienst. Das Geld soll dazu verwandt werden, Baumaterialien, Möbel und Öfen anzuschaffen und zu verteilen. Dringend benötigt werden auch Entfeuchtungsgeräte, damit die Mauern der Häuser endlich trocknen. Bis zum Beginn des Winters soll jede Flutopfer-Familie wenigstens über einen trockenen und beheizbaren Raum verfügen.

Einen zweiten Scheck überreichte Fleckenstein der Leiterin des Obdachlosenheims in Prag, Lida Tomesova. Mit den 5000 Euro will sie eine Weihnachtsfeier für die Flutopfer organisieren. Jedes Kind soll wenigstens ein kleines Geschenk erhalten. Zudem wird der Wiederaufbau einer Drogenambulanz des tschechischen Arbeiter-Samariter-Bundes in Prag mit 30 000 Euro unterstützt.

Bereits in zwei Wochen wird abermals eine Delegation aus Hamburg nach Tschechien aufbrechen. Der Prager Magistrat hat versprochen, bis dahin eine Liste mit den Personen zu erstellen, die am nötigsten Hilfe brauchen. Petr Hulinsky, im Magistrat für Katastrophenschutz zuständig, dankt den Hamburgern sehr für ihren Einsatz. Und er verspricht: "Wir garantieren, dass jede Krone wirklich den Bedürftigen zugute kommt."