Kommission kritisiert norwegische Sicherheitskräfte. Anschläge mit 77 Toten hätten verhindert werden können

Oslo. Der Untersuchungsbericht hat 20 Kapitel und ist fast 500 Seiten lang. Das Urteil ist vernichtend und lässt die norwegische Polizei in keinem guten Licht erscheinen. Zu langsam und zu ineffektiv: So beschreibt eine zehnköpfige Kommission zur Aufarbeitung der Anschläge in Oslo und Utøya die Arbeit der Beamten.

Auch der Geheimdienst bekam schlechte Noten. Er hätte mehr tun können, um den Rechtsextremisten Anders Behring Breivik noch vor der Tat aufzuspüren. Fazit: Der Anschlag im Osloer Regierungsviertel und das Massaker auf der Insel Utøya hätten verhindert werden können - wenn die Polizei ihre Arbeit richtig gemacht hätte.

Wenngleich es sich bei den Anschlägen um die "möglicherweise schockierendsten und unfassbarsten Taten, die Norwegen je erlebt hat", handle, seien sie vermeidbar gewesen. Den Anschlag im Regierungsviertel hätte es nicht gegeben, wenn die "bereits existierenden Sicherheitsmaßnahmen effektiv angewandt worden wären". Auch auf der Ferieninsel Utøya sei eine schnellere Reaktion "eine realistische Möglichkeit" gewesen; die Verzögerung von 35 Minuten sei "nicht akzeptabel", heißt es in dem Expertenbericht, den gestern die Kommissionsvorsitzende und Anwältin Alexandra Bech Gjorv an Norwegens Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg übergab.

Breivik hatte im Juli vergangenen Jahres in Oslo und auf Utøya insgesamt 77 Menschen getötet. Das Urteil im Prozess soll am 24. August dieses Jahres fallen. Breivik plädierte auf nicht schuldig, obwohl er die Anschläge gestand. Er gab an, die 77 Menschen aus "Notwehr" getötet zu haben, um Norwegen vor fremden Einflüssen zu schützen. Die Staatsanwaltschaft will den Angeklagten in die Psychiatrie schicken, was Breivik verhindern will. Die Verteidigung fordert im Falle einer Verurteilung eine Gefängnisstrafe.

Die Kommissionsvorsitzende Gjorv sagte, der Bericht zeige "mehrere große Schwächen" in der Reaktion auf die Anschläge auf. So seien zum Beispiel ein Autobomben-Anschlag "auf den Regierungskomplex und koordinierte Angriffe seit Jahren stets wiederkehrende Szenarien bei Bedrohungs- und Sicherheitsanalysen" gewesen. Ein weiterer Kritikpunkt war die mangelnde Kommunikation zwischen verschiedenen Einheiten der Polizei: Berichte von Augenzeugen, die Breivik nach den Anschlägen im Regierungsviertel gesehen hatten, wurden nicht an die richtige Stelle weitergeleitet. Außerdem habe es viel zu lange gedauert, bis eine Beschreibung vom Attentäter und seinem Fahrzeug durchgegeben wurde. Auch die Notrufzentralen waren überlastet.

Die unerfahrenen Polizisten hätten versäumt, die Verkehrsleitzentrale anzuweisen, den Verkehr um die Hauptstadt Oslo anzuhalten. So hätte Breivik möglicherweise gestoppt werden können, bevor er die Insel erreichte. Zwischen der Bombenexplosion in Oslo und Breiviks Festnahme auf Utøya vergingen mehr als drei Stunden, obwohl sein Name den Sicherheitsbehörden bereits bekannt war. Laut Bericht dauerte es 35 Minuten vom Eintreffen der ersten Polizisten aus einem örtlichen Kommissariat am Ufer des Festlandes gegenüber von Utøya und der Ankunft von Spezialeinheiten auf der Insel. Die ersten beiden Polizisten hätten alles unternehmen müssen, um auf die Insel zu gelangen, blieben aber auf dem Festland. Sie gaben an, kein Boot gefunden zu haben. Als schließlich Angehörige der Sondereinheit Delta aus dem 40 Kilometer entfernten Oslo versuchten, auf die Insel zu gelangen, fiel ihr überladenes Schlauchboot aus. Die Polizisten mussten daraufhin auf zwei Privatboote umsteigen. So konnte Breivik auf Utøya mehr als eine Stunden lang ungehindert auf die Teilnehmer des Jugendlagers der Arbeiterpartei feuern.

Der Bombenanschlag im Regierungsviertel hätte vielleicht auch verhindert werden können, wenn die Straße entlang des Regierungssitzes für den Verkehr geschlossen worden wäre - was bereits seit 2004 geplant gewesen sei, aber wegen bürokratischer Hürden nicht umgesetzt wurde. Breivik konnte so einen Lieferwagen mit einer 950 Kilogramm schweren Bombe direkt vor dem 17 Stockwerke hohen Regierungsgebäude parken.

Ministerpräsident Jens Stoltenberg erklärte, für die Reaktionen der Behörden auf die Anschläge trage letztendlich er selbst die Verantwortung. "Es hat sehr lange gedauert, den Täter festzunehmen. Die Polizei hätte die Insel früher erreichen können. Dies sind Umstände, die ich sehr bedauere." Fragen nach seinem Rücktritt wich Stoltenberg aber aus.