Zehnter Jahrestag der Flugkatastrophe: Zur Gedenkfeier kam auch der Mann, der seine Familie verlor und nach dem Unglück einen Fluglotsen tötete.

Überlingen. Soja Fedotova war 14 Jahre alt, als sie in ihrem Tagebuch ein Gedicht notierte: "Ich fiel von der Mondsichel, von deren schmalstem Zipfel. Und dann flog ich furchtbar lang - und erreichte den Himmel." Wenig später war das Mädchen tot. Soja aus Ufa, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Baschkirien, stürzte aus 11 000 Metern auf eine Wiese neben dem Bodensee. Weil ein Schweizer Fluglotse eine fatale Anweisung gegeben hatte, war Sojas Flugzeug in einer lauen Sommernacht vor zehn Jahren mit einem Frachtflieger zusammengeprallt.

Die 14-Jährige und 70 weitere Menschen, darunter 44 Kinder, wurden Opfer eines der schwersten Flugunglücke in Deutschland. Die meisten Kinder waren Richtung Spanien unterwegs, zur Belohnung für sehr gute Schulnoten. Sojas Tagebucheintrag hängt heute an einem Kreuz aus Holz und markiert die Stelle, an der ihr Leichnam gefunden wurde.

Immer wieder reisen Angehörige von jener russischen Region westlich des Urals an, um den Unglücksort zu besuchen. An diesem Wochenende, zum zehnten Jahrestag der Katastrophe, kamen mit einer Sondermaschine 110 Hinterbliebene, begleitet von Psychologen, Religionsvertretern, einem Arzt und Regierungsmitgliedern. In einem Gottesdienst gestern Nachmittag sagte Pfarrer Meinhard Taiserdorf, es sei ein Stück Normalität eingekehrt. "Aber die stille Solidarität darf nicht enden." Für den späten Abend war eine offizielle Gedenkfeier der Stadt Überlingen geplant. Das Unglück hatte sich kurz vor Mitternacht ereignet.

Unter den Trauernden war auch Witalij Kalojew. Der 56 Jahre alte Bauingenieur und Architekt aus Nordossetien arbeitete damals in Barcelona. Seine vier Jahre alte Tochter Diana, ihr elfjähriger Bruder und Witalijs Frau Swetlana wollten zu Besuch kommen. Die Familie hätte sogar fast den Flug verpasst, weil sich Diana am Flughafen verlaufen hatte und kurzzeitig verschwunden war. In letzter Minute starteten die drei - ins Unglück.

Kalojew war als einer der ersten Angehörigen vor Ort. Tagelang schrie und brüllte er vor Schmerz, aus Hass auf die Schuldigen rasierte er sich fortan nicht mehr. Und als sich niemand für das Geschehene entschuldigen wollte, erstach er 2004 den Fluglotsen, der in der Katastrophennacht dem russischen Piloten die folgenschwere Anweisung gegeben hatte zu sinken, obwohl die Automatik der Tupolew zum Steigflug riet, während die Fracht-Boeing der DHL sank. Die Schweiz verurteilte Kalojew zu 63 Monaten Haft, 2007 kam er vorzeitig frei. Heute ist der Ossete, der in seiner Heimat wie ein Held gefeiert wurde, stellvertretender Bauminister.

+++ Sohn eines Opfers wird Pilot +++

Für den Witwer stand immer fest, dass er an der Gedenkfeier zum zehnten Jahrestag teilnehmen wollte. Doch seine Einreise war schwierig, ein Visum bekam er erst in letzter Minute. Am Flughafen München wurde er stundenlang festgehalten, weil das Auswärtige Amt erneut prüfen wollte, ob er weiterreisen durfte. Baden-Württembergs Minister für internationale Angelegenheiten, Peter Friedrich (SPD), kritisierte, die Anwesenheit des "Fluglotsenmörders" Kalojew werfe einen Schatten auf die Gedenkfeier. Friedrich vertrat das Land beim Gedenken am späten Sonntagabend.

Erinnerungsorte wie jener für Soja Fedotova liegen rund um Überlingen. Holzkreuze, Steine, Tafeln mit Fotografien, Markierungen an Bäumen gedenken der Menschen, die hier starben. Die Trümmerteile der beiden Flugzeuge und die menschlichen Überreste waren über Kilometer verstreut. Viele Angehörige kommen zur Obstplantage von Bernhard Kitt. Dort wurden die meisten Opfer geborgen. Der Obstbauer hatte sich anfangs gewundert, warum die Hinterbliebenen über Jahre bei ihm anklopften, statt das Mahnmal "Memento Mori" zu besuchen, das am Hügel mit Blick auf den Bodensee an die Toten erinnert und Trost spenden soll. Die neun kindshohen massiven Stahlkugeln wirken wie eine zerrissene Perlenkette und symbolisieren, dass unser Lebensfaden in jeder Sekunde zerreißen kann und doch etwas zurückbleibt.

Doch die Familien drängt es bis heute direkt an jenen Platz, wo einst der tote Sohn oder die Tochter, der Enkel, die Schwester lagen. Dort packen sie Erde ein und bringen sie nach Hause. Nach vielen Gesprächen in seinem Haus, das Hinterbliebenen stets offen steht, hat Bernhard Kitt schließlich verstanden: "Dort, wo der Leichnam lag, liegt für diese Menschen die Seele."