Neue Indizien zu dem Fall, der 1932 Amerika erschütterte: Womöglich hat die Justiz damals den Falschen hingerichtet

New York. Es sei "die größte Geschichte seit der Auferstehung Christi", schrieb der US-Journalist H. L. Mencken über eine Entführung, die 1932 Amerika erschütterte. Das Verbrechen berührt bis heute die Menschen, weil es nie aufgeklärt wurde. Charlie, der 20 Monate alte Sohn von Flugpionier Charles Lindbergh, wurde entführt und getötet. Die Justiz verurteilte den Deutschen Bruno Hauptmann wegen Mordes zum Tode und richtete ihn am 3. April 1936 auf dem elektrischen Stuhl hin, obwohl er bis zuletzt seine Unschuld beteuerte. Es gab aber von Anfang an Zweifel, ob er der einzige Schuldige war.

Robert Zorn will jetzt das alte Geheimnis gelüftet, will diesen berühmtesten "alten Fall" der US-Geschichte mit vielen Jahren Verspätung gelöst haben. In seinem Buch "Cemetery John (Friedhofs-John) - The Undiscovered Mastermind of the Lindbergh Kidnapping" hat der US-Autor Indizien zusammengetragen, die beweisen sollen, dass hinter dem Verbrechen zwei Mittäter standen, die nie belangt wurden.

Am 1. März 1932 hörte Charles Lindbergh in seiner Villa in New Jersey ein Geräusch; um zehn Uhr abends kam das Kindermädchen mit seiner Frau in die Bibliothek gestürzt: Ob er das Baby bei sich habe? Nein, hatte er nicht. Lindbergh rannte ins Kinderzimmer; er sah eine leere Wiege, ein offenes Fenster, einen Umschlag mit einer Lösegeldforderung und griff nach dem Gewehr. 20 Minuten lang suchten Lindbergh und seine Frau das Grundstück nach Eindringlingen ab, dann kam die Polizei. Sie entdeckte Reifenspuren und drei Teile einer primitiv zusammengehauenen Holzleiter im Gebüsch. Gleichzeitig mit der Polizei kamen die Journalisten. Das Gesicht des Piloten aus Minnesota kannte die ganze Welt, seit er 1927 mit der "Spirit of St. Louis" ganz allein quer über den Atlantik von New York nach Paris geflogen war. Nun wurden die Lindberghs mit einem Schlag noch berühmter. Ihre Geschichte war auch wie dafür gemacht, im Brennpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Da war Lindbergh: ein Nationalheld, ein hochgewachsener, schlanker, schöner Mann. Da war seine sehr schöne Frau, die ihr Schicksal mit bewundernswerter Fassung trug; da war das Kind, Charlie, blond mit blauen Augen.

Doch das Glück der Familie endete am 12. Mai 1932. Nach 73 qualvollen Tagen voller orthografisch fehlerhafter Erpresserbriefe - auch 50 000 Dollar waren übergeben worden - entdeckte ein Lastwagenfahrer Charlies Leiche. Die Entführer hatten ihn weggeworfen, als handle es sich um Abfall. Tiere hatten die Leiche angefressen. Der vermeintliche Täter, Bruno Hauptmann, war relativ schnell ausgemacht und wurde von einem Geschworenengericht für schuldig befunden.

Doch Zweifel blieben, unter anderem deshalb: Für einen Einzelnen wäre es schwer gewesen, die Leiter hochzuklettern, durch das Fenster zu steigen, das Baby aus der Wiege zu heben, sich zusammen mit dem Baby durch das Fenster zu winden und anschließend, während er sich mit einer Hand an der Leiter festhielt, wieder abzusteigen.

Dann war da die Geschichte von John Condon, einem Bekannten der Familie Lindbergh, der sich als Nachrichtenübermittler zur Verfügung stellte, um mit dem Entführer (oder den Entführern, damals ging man noch fest davon aus, es handle sich um eine Bande) den Kontakt zu halten. Condon hatte sich nachts auf einem Friedhof in der Bronx lange mit einem Mann unterhalten, der sich als "John" vorstellte. Es gab offenbar noch einen zweiten Kriminellen, der Ausschau hielt, ob auch keine Polizei in der Nähe war. Bei einer ersten polizeilichen Gegenüberstellung hatte Condon Bruno Hauptmann nicht als jenen "John" identifizieren können. Erst im Gerichtssaal änderte er seine Meinung. Allerdings verfügte Bruno Hauptmann nicht über ein besonderes Merkmal jenes "John" - einen fleischigen Auswuchs am linken Daumen.

Autor Zorn verdankt sein Wissen über den spektakulären Fall seinem Vater Eugene, der in der Bronx aufwuchs. Als Kind hatte Eugene einen Nachbarn, der Johannes Knoll hieß und aus Herxheimweyher in der Südpfalz stammte; in Amerika nannte er sich John. Jener Nachbar war ein kalter und brutaler Mann; es gibt Hinweise, dass er seine Ehefrauen (es gab mehrere) misshandelte. John Knoll weihte Eugene Zorn in die Kunst des Briefmarkensammelns ein. So haben sich Umschläge mit Knolls Handschrift erhalten; laut einem Computergutachten stimmt sie mit hoher Wahrscheinlichkeit (mehr als 80 Prozent) mit der Handschrift des Entführers überein. Es gibt weitere Hinweise, die auf einen Briefmarkensammler als Täter schließen lassen: Einmal, als die Lindberghs auf ein Lebenszeichen ihres Kindes drangen, bekamen sie ein Päckchen mit einem Strampelanzug; frankiert war es mit einer seltenen Marke. Auch die "Unterschrift", die sämtliche Kidnapperbriefe trugen, erinnern an Philatelie und Stempel: zwei Kreise, die ineinandergreifen, und drei Punkte in einer Linie, in denen das Briefpapier durchstochen wurde. Dann ist da noch ein Foto: Darauf ist John Knoll zu sehen, wie er seinen Sohn im Arm hält; am linken Daumen erkennt man einen Auswuchs. Also just das besondere Merkmal jenes "John", mit dem John Condon auf dem Friedhof in der Bronx gesprochen hatte.

Es sind keine Verschwörungstheorien in Zorns Buch, sondern stichhaltige Indizien. Er reimt sich die Geschichte so zusammen: Es gab ein Tätertrio. John war der Kopf der Bande, sein Bruder Walter Knoll gehörte ebenfalls dazu, Hauptmann war der Dritte im Bunde. Hauptmann sei von vorne in die Lindbergh-Villa eingestiegen, hinten lehnte die Leiter; John war der Mann auf der Leiter, Walter hielt sie von unten fest. Das Geräusch, das Lindbergh hörte, entstand, weil die Leiter zum Teil zusammenbrach. Dabei habe John das Baby fallen lassen. Sollte das Kind danach noch am Leben gewesen sein, könnte es gut sein, dass er es erwürgte. Bruno Hauptmann war wohl nicht unschuldig, aber wenn er darauf beharrte, kein Mörder zu sein, sagte er möglicherweise die Wahrheit.

John und Walter Knoll können nicht mehr zu alldem befragt werden - sie sind tot. Walter starb früh an Lungenkrebs, John folgte ihm 1980 ins Grab. Wenn die Theorie von Robert Zorn stimmt, kamen die deutschen Brüder ohne Strafe davon. Die irdische Justiz ist nicht mehr für sie zuständig.