Sprengstoffanschlag in Lüttich. Amokläufer zündet Granaten an Bushaltestelle. Mindestens fünf Tote, 123 Verletzte

Lüttich. "Plötzlich gab es einen Knall, dann fielen Schüsse", schildert Konstantin Fischenich, 20, aus dem westfälischen Olpe die dramatischsten Sekunden seines Lebens. Der deutsche Student, der Freunde in Belgien besuchen will, ist gerade aus seinem Auto gestiegen, als der Amokläufer von Lüttich mit seinem Anschlag im Zentrum der belgischen Stadt beginnt.

Es ist Dienstagmittag, 12.30 Uhr, als drei Explosionen von Handgranaten, Revolverschüsse und die Detonationen von Blendgranaten das Zentrum der belgischen Stadt erschüttern. Die Sprengsätze gehen an der Bushaltestelle am Platz Saint-Lambert in unmittelbarer Nähe zum traditionellen Weihnachtsmarkt hoch. Der Todesschütze nimmt von einem Gebäude aus wartende Fahrgäste ins Visier, schießt wahllos in die Menge. Menschen flüchten in Panik, viele bleiben verletzt auf der Straße liegen. "Alle schrien, wir rannten um unser Leben", sagt ein Augenzeuge mit zitternder Stimme. "Ich habe immer wieder versucht, in Geschäften Schutz zu suchen, die hatten aber alle die Rollos heruntergelassen und sich verbarrikadiert." Andere suchen Zuflucht in Kneipen und Cafés, harren dort stundenlang aus. Die Polizei ruft die Bevölkerung in der Altstadt auf, ihre Häuser nicht zu verlassen.

Wenige Minuten nach den ersten Explosionen treffen die Rettungskräfte ein. Im Hof des Justizpalastes unweit des Anschlagsortes wird eine Notversorgungsstelle eingerichtet. "Die Zustände sind chaotisch", sagt der Vater eines verletzten Kindes. Als die Polizei gegen 15 Uhr die Lage unter Kontrolle hat, tötet sich der Amokläufer selbst.

Bei der Tat habe Nordine A. zunächst eine 45 Jahre alte Putzfrau des Nachbarn in einem Schuppen mit Kopfschuss getötet. Danach hatte er mindestens vier Menschen erschossen und 123 verletzt, "fünf von ihnen schweben in akuter Lebensgefahr", sagte Innenministerin Joelle Milquet. Viele der Opfer seien von Geschossen oder Splittern verletzt worden. Unter den Todesopfern sind ein 18 Monate altes Kind, der 17-jährige Schüler Pierre Gérouville, der 15 Jahre alte Mehdi Belhadj und eine Rentnerin, 75. Nach einem Bericht der Zeitung "Le Soir" kam auch noch ein Jugendlicher, 20, ums Leben. Die Polizei bestätigte das bisher jedoch nicht.

Das Motiv des Mannes, dessen Namen die Behörden mit Norodine Amrani angeben, ist unklar. Es wurde kein Bekennerschreiben oder Abschiedsbrief gefunden. Der 33-Jährige war offenbar ein Einzeltäter. Er war wegen Sexualdelikten, illegalen Waffenbesitzes und des Anbaus von 2800 Cannabis-Pflanzen vorbestraft. Erste Berichte, wonach er Komplizen hatte, bestätigten sich nicht. Der Täter wurde 2008 zu knapp fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Damals waren bei ihm 9500 Waffenteile sowie Dutzende Schusswaffen gefunden worden. Im Oktober 2010 kam er auf Bewährung frei. Wie er nach der Haft wieder an neue Waffen kam, ist unklar. Die Polizei hatte Amrani für gestern Mittag zu einer Anhörung geladen, er war dort aber nicht erschienen. Stattdessen packte er seine Waffen und Granaten in seinen Rucksack und machte sich auf den Weg in die Innenstadt.

Der 33-Jährige war wegen Gewaltdrohungen polizeibekannt, aber nicht wegen Terrorismus, erklärte die Lütticher Staatsanwältin Danièle Reynders ausdrücklich. Der Mann lebte ganz in der Nähe des Tatorts. Sein Auto wurde aus Angst vor weiteren versteckten Bomben kontrolliert gesprengt.

Nach dem Blutbad steht Belgien unter Schock. Premierminister Elio Di Rupo besuchte ebenso wie König Albert II. und Königin Paola den Tatort. "Das ganze Land teilt Ihren Schmerz", sagte Di Rupo an die Adresse der Familien der Opfer. Er betonte, es habe sich um einen Einzeltäter und nicht um Terrorismus gehandelt. Auch der Lütticher Bürgermeister Willy Demeyer sprach von einer "Einzeltat, die tiefe Betroffenheit im Herzen der Stadt gesät hat".

Video zum Attentat www.abendblatt.de/luettich