Nach Erdbeben chaotische Zustände im Osten der Türkei. Mehr als 1000 Tote befürchtet

Van. Retter graben mit bloßen Händen nach Überlebenden. Auf den Straßen herrscht Panik, Menschen suchen ihre Angehörigen. Verletzte irren in dem Chaos umher, warten vergeblich auf Hilfe. Nach einem schweren Erdbeben im Osten der Türkei sind offenbar viele Menschen ums Leben gekommen. Experten befürchten mehr als 1000 Tote. Helfer fanden in den ersten Stunden der Katastrophe mindestens 85 Tote. Mehr als 1000 Verletzte wurden in Krankenhäuser gebracht, berichten türkische Fernsehsender.

Die Stärke der Erdstöße war am Abend auf 7,2 nach oben korrigiert worden. Das türkische Erdbebenzentrum Kandilli hatte zunächst von einer Stärke 6,6 auf der Richterskala gesprochen. Das Epizentrum habe in einer Tiefe von nur fünf Kilometern unter dem Dorf Tabanli in der Provinz Van gelegen, die an den Iran grenzt. Deshalb sei das Beben so zerstörerisch gewesen. Es gab mehrere Nachbeben.

Die Städte Ercis und Van sind besonders betroffen

Nach der Intensität des Bebens seien viele Opfer zu erwarten, erklärte der Leiter der Erdbebenwarte, Mustafa Erdik, am Sonntagabend auf einer Pressekonferenz. Etwa 80 Gebäude seien allein in den Städten Ercis und Van eingestürzt, teilte die Regierung mit, darunter auch mindestens ein siebengeschossiges Hochhaus und ein Schülerwohnheim. Auch in den umliegenden Dörfern habe es erhebliche Schäden gegeben. Ercis liegt auf einer Verwerfungslinie und ist deshalb besonders erdbebengefährdet. Viele Bewohner seien unter den Trümmern begraben, teilte der Rettungsdienst des türkischen Roten Halbmonds mit. Er begann damit, Rettungsmannschaften, Zelte, Decken und Medikamente in das Katastrophengebiet zu bringen. "Es ist ein starkes Erdbeben, das schwere Verwüstungen anrichten kann", sagte der Präsident der Organisation, Lütfi Akan. Auch die Armee sollte für die Rettungsarbeiten herangezogen werden. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Nachts gibt es in dieser Region Minustemperaturen. Immer mehr Leichen würden unter dem Schutt in der Provinz Van gefunden, berichtet der TV-Sender n-tv.

Der Bürgermeister von Ercis, Zulfikar Arapoglu, bat in einem dramatischen Appell um Hilfe: "Es sind so viele tot. Unsere ganze Stadt liegt in Trümmern", sagte er dem Fernsehsender n-tv. "Wir brauchen dringend Hilfe, wir brauchen Ärzte und Sanitäter." Ercis ist eine Kreisstadt mit mehr als 70 000 Einwohnern. Auch in der Provinzhauptstadt Van mit 338 000 Einwohnern war die Lage zunächst noch unübersichtlich. Bürgermeister Bekir Kaya sagte: "Das Telefonsystem ist wegen Panik blockiert, wir können nicht sofort den ganzen Schaden ermessen." Auch der Strom sei vielerorts ausgefallen. Bilder von Überwachungskameras zeigten Bürogebäude, in denen Möbel übereinanderstürzten. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wollte noch am Abend von Istanbul in die Provinz Van fliegen. Er versprach umfangreiche Hilfe.

Die Türkei wird immer wieder von heftigen Erdbeben heimgesucht. In der Provinz Van gab es 1976 ein Erdbeben mit fast 4000 Toten. Das Land lebt in ständiger Angst vor neuen Erdstößen durch die Reibung tektonischer Platten in der Erdkruste. Rund 92 Prozent des rund 814 000 Quadratkilometer großen Landes liegen auf Erdbebengürteln. Etwa 95 Prozent der Türken leben auf unsicherem Grund. Das gilt auch für Industrieanlagen sowie die wichtigsten Staudämme und Kraftwerke. Fast die Hälfte dieser Staudämme wurde in besonders gefährdeten Gebieten gebaut.

"Deutschland steht der Türkei in dieser schweren Stunde bei", sagte Außenminister Guido Westerwelle (FDP) am Sonntag in Berlin. Westerwelle sprach der türkischen Regierung, dem türkischen Volk und den Menschen in der betroffenen Region "aufrichtige Anteilnahme" aus. "Unser tief empfundenes Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer, den Verletzten und denen, die durch das Erdbeben ihr Hab und Gut verloren haben." Für schnelle und unbürokratische Hilfe sprachen sich auch die Grünen-Vorsitzenden Claudia Roth und Cem Özdemir aus.

Das Erdbeben war auch im Nachbarland Armenien spürbar. In der Hauptstadt Eriwan seien Tausende Menschen aus Angst vor einstürzenden Häusern ins Freie geflüchtet, berichteten örtliche Medien. Präsident Sersch Sargsjan erklärte, er wolle an einem für heute geplanten Staats-besuch in Russland festhalten.