Von der Intelligenz eines Kindes den Lebensweg abzuleiten, wurde als Irrtum entlarvt. In der Pubertät kann die Hirnleistung steigen oder sinken

Hamburg/London. "Ein ungeübtes Gehirn ist schädlicher für die Gesundheit als ein ungeübter Körper", wusste schon der irische Dramatiker, Schriftsteller und Nobelpreisträger George Bernard Shaw (1856-1950).

Und laut einer neuen Studie ist die wichtigste Trainingszeit für das Gehirn die Pubertät. Während des Erwachsenwerdens kann sich der Intelligenzquotient (IQ) noch deutlich ändern, berichten britische Forscher im Fachjournal "Nature". "Wir haben die Tendenz, Kinder relativ früh im Leben zu beurteilen und ihren Ausbildungsweg festzulegen", erklärt Studienautorin Cathy Price. Die Ergebnisse zeigten aber, dass sich die Intelligenz von Kindern noch entwickeln, ihr IQ signifikant verbessern könne. Andererseits hielten leistungsstarke Kinder ihr Potenzial womöglich nicht. Bislang galt die menschliche Intelligenz als über Jahre stabil. Prof. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinderpsychiatrie und -psychosomatik im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, bestätigt: "Die Pubertät ist die wichtigste Umbauphase des Gehirns. In dieser Zeit bauen sich neue neuronale Netzwerke auf. Deshalb sieht man bei entsprechender Förderung auch besonders große Lernerfolge bei Kindern."

Hochbegabte haben einen IQ von 130 oder mehr

Auch die Wissenschaftler am University College in London konzentrierten sich in ihrer Studie auf Jugendliche zwischen zwölf und 16 Jahren. Von ihrem Gehirn wurde eine Aufnahme mittels Magnetresonanztomografie gemacht, zudem unterzogen sie sich einem Intelligenztest. Dabei wurden Sprache, Allgemeinwissen und Gedächtnis sowie Fähigkeiten wie das Suchen nach fehlenden Bildelementen oder das Lösen von Puzzles analysiert. Vier Jahre später wurden die Jugendlichen erneut untersucht. Die Testwerte bei den Intelligenzquotienten variierten zwischen 77 und 135 Punkten beim ersten Termin und zwischen 87 und 143 Punkten beim zweiten Termin. Einige verbesserten ihr Ergebnis in den Tests um 20 Punkte, andere verschlechterten sich um einen ähnlichen Betrag.

Parallel habe sich die graue Hirnsubstanz verändert, die überwiegend aus Nervenzellkörpern besteht. Zu beobachten war eine Zunahme der Dichte der Hirnsubstanz in der linken motorischen Großhirnhälfte, die beim Sprechen aktiviert wird. Diese sorgte für einen Anstieg des verbalen IQ, der Fähigkeiten in puncto Sprache und Gedächtnis bewertet. Außerdem nahm die Dichte der Hirnsubstanz im vorderen Kleinhirn zu, einer Region, die die Bewegungen der Hände steuert. Die Folge war ein Anstieg des nonverbalen IQ - also etwa Puzzle- und Bildsuchfähigkeiten. Im Klartext: Je ausgeprägter die grauen Zellen in einem bestimmten Bereich, desto größer sind unsere Fähigkeiten, die dieser Region zugeordnet sind. Zum Beispiel können wir uns besser ausdrücken, Dinge merken und Zusammenhänge herstellen.

Auch in Hamburg wird auf diesem Gebiet geforscht. Die Kinder werden mit dem Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder (HAWIK IV) auf ihre Intelligenz überprüft. Dieser ist in vier Bereiche aufgeteilt: sprachabhängige Intelligenz (Gemeinsamkeiten finden, Wortschatztest); wahrnehmungsgebundenes logisches Denken (Mosaiktest und Bildkonzepte); Arbeitsgedächtnis (Buchstaben-Zahlen-Folgen, Zahlen nachsprechen) und Verarbeitungsgeschwindigkeit (Zahlen-Symbol-Test, Symbolsuche). Aus jedem Gebiet ergibt sich ein Wert, der Durchschnitt aller Werte ergibt den IQ. Ein IQ-Test darf maximal einmal im Jahr durchgeführt werden, weil sonst Lerneffekte das Ergebnis verfälschen würden. Die Testergebnisse werden an einer Norm geeicht, aus der man dann Rückschlüsse darüber ziehen kann, ob ein Kind normal-, über- oder unterdurchschnittlich intelligent ist. Diese Norm wird alle zehn Jahre neu angepasst, weil die Durchschnittswerte ständig steigen.

Eine Erklärung für das Auf und Ab des IQ fanden die Forscher zunächst nicht. Diskutiert werde, dass die Kinder - je nachdem - Früh- oder Spätentwickler sein könnten. Auch die Ausbildung könnte eine Rolle spielen. Die Forscher sehen Hinweise dafür, dass das Gehirn im Verlauf des Lebens formbar bleibt und sich an neue Herausforderungen anpassen kann. Ähnliche Erfahrungen hat auch Schulte-Markwort: "Intelligenz ist nicht so statisch wie bis vor ein paar Jahren angenommen. Es gibt Beobachtungen, in denen Kinder und Teenager aus einem sozial schwachen Umfeld in ein betreutes Wohnprojekt eingegliedert werden und Lernförderung erhalten. Der IQ dieser Kinder ist um bis zu zehn Punkte gestiegen. Das Gehirn hat sich der neuen Herausforderung angepasst."