Aus der Atomruine in Fukushima dringt immer mehr stark radioaktiv belastetes Wasser. Die Kühl-Arbeiten stocken immer wieder. Nun wurden im Meerwasser vor Fukushima um das 1250-fache erhöhte Konzentrationen an radioaktivem Jod gemessen.

Fukushima/Tokio. Die Lage am Atomkraftwerk Fukushima verschärft sich immer mehr. Aus der Ruine dringt stark radioaktiv belastetes Wasser. Vermutlich ist ein wichtiger Reaktormantel beschädigt. An mehreren Blocks stand Wasser, das 10 000-fach stärker strahlte als gewöhnlich. Die Arbeiter mussten sich deshalb erneut zurückziehen, die Kühlungsarbeiten standen still. Regierungschef Naoto Kan bezeichnete die Lage zwei Wochen nach dem Großbeben als sehr ernst: „Wir sind noch nicht in einer Position, in der wir optimistisch sein können.“ Die Zahl der Erdbebentoten stieg auf über 10000.

In Deutschland kamen minimale Mengen Radioaktivität an. Kan betonte in seiner Ansprache, die Regierung tue „das Äußerste“, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Er dankte den Arbeitern am Krisen-AKW: Sie riskierten ihr Leben. Die Verstrahlten hätten sein Mitgefühl.

Die Umweltorganisation Greenpeace forderte derweil, die AKW-Havarie auf die höchste Stufe der internationalen Atomunfallskala einzuordnen. Das wäre Stufe 7 der Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES). Aus der Atomanlage seien schon jetzt entsprechend große Mengen an Radioaktivität entwichen, teilte Greenpeace mit. Die japanischen Behörden sprechen bisher nur von Stufe 5. Greenpeace-Atom-Experte Christoph Lieven sagte der dpa, die Kernschmelze finde sicherlich schon statt.

An Fukushima Eins wurde nun schon an drei Meilern hoch radioaktiv belastetes Wasser entdeckt. DasWasser stoppte am Freitag die Einsätze der Arbeiter an den Reaktoren 1 und 2, wie die Nachrichtenagenturen Kyodo und Jiji Press berichteten. Es wurde im Untergeschoss der Turbinenräume entdeckt – genau wie am Donnerstag bei Block 3. Die Techniker mussten sich zurückziehen. Wie Kyodo unter Berufung auf die Betreiberfirma Tepco meldete, war am Meiler 1 die Radioaktivität im Wasser 10 000 Mal so hoch wie üblich.

Die beiden Arbeiter, die am Donnerstag in einem Keller neben Reaktor 3 verstrahlt wurden, standen nach Angaben von Tepco in Wasser mit einer Radioaktivität von 3,9 Millionen Becquerel pro Kubikzentimeter. Auch dieser Wert sei etwa 10 000 Mal so hoch wie in solchen AKW üblich. Die Atomsicherheitsbehörde NISA hatte von einer Dosis von 170 bis 180 Millisievert gesprochen, die die Arbeiter abbekamen. Die Maßeinheit Sievert zeigt, wie groß die Wirkung der radioaktiven Strahlung auf Menschen ist. Die beiden verletzten Arbeiter sollen am Montag wieder aus der Behandlung entlassen werden. Vermutlich seien an Block 3 der Reaktorbehälter oder das Abklingbecken für abgebrannte Kernbrennstäbe beschädigt, berichtete der Betreiber Tepco. Die Atomaufsichtsbehörde NISA fügte an, das Wasser in dieser Anlage komme vermutlich vom Kern des Reaktors. Die Berichte schürten neue Angst vor einer Kernschmelze. Der Mantel ist so wichtig, weil er verhindert, dass Massen an Radioaktivität ungebremst in die Umwelt drängen.

Block 3 gilt wegen seines Plutonium-Gehalts als besonders gefährlich. In den nächsten Tagen treibt der Wind die radioaktiven Partikel aus den Unglücksreaktoren jedoch auf das offene Meer – und nicht etwa in Richtung der Millionenstadt Tokio. Tepco begann am Freitag damit, Reaktor 1 und 3 mit Süßwasser zu kühlen – das ist besser als Meerwasser, da dieses die Brennstäbe verkrustet. Auch Block 2 sollte amSamstag mit Süßwasser gekühlt werden. Das Erdbeben und der Tsunami am 11. März hatten bei mehreren Reaktoren der Anlage Fukushima Eins die Kühlung zerstört. Seitdem entweicht radioaktives Material unter anderem über kleinste Teilchen, Dampf, Staub und Wasser in die Luft. Um das Kraftwerk gilt eine 20 Kilometer große Evakuierungszone.

Nun forderte die Regierung die Bewohner im Umkreis zwischen 20 und 30 Kilometern Entfernung vom AKW auf, freiwillig die Gegend zu verlassen. Die Regierung steht seit Tagen in der Kritik, weil sie die Evakuierungszone nicht offiziell ausweitet. Die Zahl der bisher registrierten Opfer nach Beben und Tsunami hat nach Medienberichten inzwischen die Marke von 10 000 überschritten. Der Fernsehsender NHK berichtete von 10 035 Toten am Freitagmorgen (Ortszeit). Rund 17 500 Menschen gelten als vermisst. Noch immer leben mehr als 240 000 Menschen in Notunterkünften. Es fehlt weiter an Wasser, Heizmaterial, Treibstoff und Medikamenten.

Japan muss sich auf einen massiven konjunkturellen Einbruch einstellen. Wenn der Internationale Währungsfonds (IWF) Mitte April neue Prognosen veröffentlicht, wird für Japan mit einer drastischen Korrektur nach unten gerechnet. Japan verfüge aber über genügend Rücklagen, um den Wiederaufbau aus eigener Kraft zu finanzieren, sagte der IWF-Missionschef für Japan, Mahmood Pradhan. Die Lebensmittelkontrollen in Deutschland wie in der gesamten EU werden angesichts des Atomunglücks verstärkt. „Künftig dürfen Lebensmittel aus den betroffenen japanischen Regionen nur noch in Deutschland eingeführt werden, wenn sie in Japan streng kontrolliert und zertifiziert wurden“, teilte Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner mit. Erstmals wurde in Deutschland radioaktives Jod aus Japan gemessen. Die Dosis sei absolut unbedenklich, sagte eine Sprecherin des Bundesumweltministeriums. Die Ankunft der radioaktiven Partikel war von Fachleuten erwartet worden.

Liveticker: Japan/Fukushima am Sonnabend, 26. März:

5.58 Uhr: Experten der Umweltschutzorganisation Greenpeace haben am Samstag damit begonnen, in der Umgebung des Atomkraftwerks Fukushima 1 eigene Stahlenmessungen vorzunehmen. Seit dem Beginn der Krise vor zwei Wochen hätten die Behörden offenbar ständig sowohl die Risiken als auch das Ausmaß radioaktiver Verseuchung unterschätzt, erklärte Greenpeace-Atomexperte Jan van de Putte.

5.28 Uhr: Japanische Ingenieure haben am Samstag verzweifelt versucht, radioaktiv verseuchtes Wasser aus dem Atomkomplex Fukushima abzupumpen. Verstrahltes Wasser wurde in drei der sechs Reaktoren gefunden. Es sei sehr wichtig, das Wasser aus den Turbinengehäusen zu entfernen, bevor die radioaktive Verstrahlung noch weiter steige, teilte die Atomaufsicht mit.

3.21 Uhr: Im japanischen Atomkraftwerk Fukushima 1 ist an einer weiteren Stellen stark radioaktiv verseuchtes Wasser entdeckt worden. Das verseuchte Wasser befinde sich im Keller des Turbinengebäudes von Reaktor 1, sagte ein Sprecher der japanischen Atomsicherheitsbehörde am Sonnabend.

1.05 Uhr: Seit Beginn der Krise im Atomkraftwerk Fukushima sind 17 Arbeiter verstrahlt worden, wie die Nachrichtenagentur Kyodo am Samstag meldete. Dabei wurden nur diejenigen Unfälle berücksichtigt, bei denen eine Radioaktivität von mehr als 100 Millisievert gemessen wurde – dies entspricht der maximalen Belastung für AKW-Arbeiter über ein ganzes Jahr hinweg.

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Die Angst vor der Atomschmelze wächst

Die Situation im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi hat sich offenbar dramatisch verschärft. Aufgrund der sehr hohen Werte von Radioaktivität, die aus der Anlage austreten, schloss die Betreiberfirma Tepco am Freitag nicht mehr aus, dass der Reaktordruckbehälter von Block 3 beschädigt ist. Im Kern von Reaktor 3 befinden sich Mischoxid-Brennstäbe (MOX), in denen neben Uran auch Plutonium - verarbeitet ist.

Behördensprecher Hidehiko Nishiyama sagte, es seien "gewisse Funktionen der Sicherheitshülle noch erhalten". Man habe jedoch "weit entfernt" von Reaktor 3 stark erhöhte Radioaktivität gemessen. Tepco räumte jedoch ein, dass man das Ausmaß der Schäden am Reaktor gar nicht genau kenne.

Der Schaden am Reaktorkern könnte entstanden sein, als eine Wasserstoffexplosion am 14. März die äußere Sicherheitshülle gesprengt hatte.

In der Anlage von Block 3 lagern 170 Tonnen Brennstäbe.

Falls tatsächlich der Reaktorkern beschädigt wurde oder gar eine Kernschmelze eingesetzt hat, wie einige Experten befürchten, dann würde die Radioaktivität noch erheblich ansteigen. Von den sechs in Fukushima stehenden Reaktoren sind derzeit drei bis fünf von einer Katastrophe bedroht.

Der Greenpeace-Atomexperte Karsten Smid sagte dem Hamburger Abendblatt: "Wir gehen davon aus, dass bereits ein einzelner Reaktor in Fukushima mehr als 200 000 Tera-Becquerel ausgestoßen hat - damit ist eindeutig Stufe 7 auf der INES-Skala erreicht." Insgesamt seien bislang etwa 500 000 Tera-Becquerel freigesetzt worden, sagte Smid. Becquerel ist eine Maßeinheit für die Zerfallsaktivität radioaktiver Stoffe; ein Tera-Becquerel ist eine Billion Becquerel. INES ist die Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse. Die Stufe 7 wurde bislang nur einmal zugeordnet: dem Unfall in Tschernobyl 1986. Er wurde mit einer Million Tera-Becquerel eingeschätzt.

Bislang hat Japans Atombehörde den Unfall in Fukushima auf Stufe 5 eingeordnet, schloss am Freitag aber nicht aus, auf Stufe 6 zu erhöhen.

"Man kann von einem schleichenden oder auch kontinuierlichen GAU in Fukushima sprechen", sagte Experte Smid. "Wir gehen von einer partiellen Kernschmelze aus - die Indizien sind eindeutig. Die hohe Jod- und Cäsiumbelastung weist darauf hin." Smid sagte, die Arbeiter in Fukushima hätten einen "Hochrisikojob", sie spielten mit ihrem Leben. Am Donnerstag hatten zwei Arbeiter im Block 3 Verbrennungen erlitten, als ihnen radioaktiv verseuchtes Wasser in ihre Schutzstiefel gelaufen war. Die Firma Tepco gab den Verstrahlten eine Mitschuld, weil sie bei ihrem Einsatz gegen Sicherheitsauflagen verstoßen hätten. Das Wasser, dem sie ausgesetzt waren, wies eine Strahlenbelastung von 3,9 Millionen Becquerel auf - pro Kubikzentimeter. Es ist eine um das 10 000-Fache erhöhte Dosis. Die japanische Regierung empfahl eine Evakuierung der betroffenen Region in einem Radius von 30 Kilometern um das Kraftwerk Fukushima. Eine 30-Kilometer-Schutzzone umgibt auch bis heute die Ruine des explodierten Atomkraftwerks Tschernobyl. Regierungssprecher Yukio Edano sagte, es sei denkbar, dass die Evakuierung angeordnet werde, falls die Strahlenbelastung in der betroffenen Region weiter ansteige.

Zum ersten Mal wandte sich Japans Regierungschef Naoto Kan mit einer Entschuldigung an sein Volk. "Wir sind nicht in einer Position, in der wir optimistisch sein können", sagte Kan und fügte hinzu, die Lage sei "äußerst unvorhersehbar". Der Regierungschef rief die Bürger zur Solidarität in "der schlimmsten Krise Japans seit dem Zweiten Weltkrieg" auf.

Die chinesischen Behörden stellten bei zwei Touristen aus Japan erhöhte Strahlenwerte fest - deutlich über den Grenzwerten, wie es hieß. Die beiden Japaner waren aus Tokio nach Wuxi nahe Shanghai gereist und werden dort jetzt medizinisch behandelt.

Auch in Deutschland wurden am Freitag zum ersten Mal radioaktive Partikel aus Fukushima nachgewiesen. Es seien aber nur "geringste Spuren", die "gesundheitlich unbedenklich" seien, versicherte das Bundesumweltministerium in Berlin. Es handle sich konkret um ein Tünftausendstel Jod pro Kubikmeter Luft. Auch in den USA, auf Island und in Schweden wurden bereits Partikel aus Fukushima entdeckt.

Die EU verständigte sich auf ihrem Gipfel in Brüssel auf einheitliche "AKW-Stresstests", wie Bundeskanzlerin Angela Merkel mitteilte. Das müsse "die Lehre aus Japan" sein.