Die Hilfsmaßnahmen beginnen langsam zu greifen. Heute soll der Hafen wieder frei sein. USA schicken Soldaten.

Port-au-Prince. Fünf endlose Tage lang, verschüttet unter den Trümmern eines Krankenhauses und vom Bein eines Bettgestells buchstäblich festgenagelt, sann der junge Mann über sein Leben nach und malte sich aus, was er alles anders machen würde, wenn er durch ein Wunder da wieder herauskäme. "Ich dachte immer wieder: Wie schade, so früh gehen und so wenig erreicht", erinnert sich Benito Revolus. Das Wunder ist geschehen.

Er hat ein stark entzündetes Bein, eine punktierte Lunge und zahllose Schnitte und Quetschungen. Und doch strahlt er über das ganze Gesicht, als er auf dem Rasen vor der Station der französischen "Ärzte ohne Grenzen" (Medecins sans Frontieres - MSF) liegt und seine Geschichte erzählt. "Manchmal kann ich immer noch nicht glauben, dass ich hier bin", staunt er. Der 23 Jahre alte Tischler war in einem Krankenhaus wegen einer Stichwunde behandelt worden, die er in einem Streit um Geld davongetragen hatte. Er lag auf der mittleren Liege eines Dreistockbetts, als das Erdbeben Haiti erschütterte.

"Ich dachte, das ist das Ende. Bevor ich überhaupt kapierte, was los ist, brach die Decke ein." Andere flüchteten aus dem Zimmer, aber er konnte nicht: Das obere Bettgestell war auf ihn gestürzt, hatte seinen linken Schenkel durchbohrt und hielt ihn am Boden fest. Doch zugleich verschaffte ihm die Falle ausreichend Freiraum, um atmen zu können und den Oberkörper ein wenig zu drehen, wenn die Schmerzen unerträglich wurden. Ein Schwerverletzter, der Blut verliert, kann nach ärztlicher Einschätzung höchstens drei Tage verschüttet überleben. Revolus lag fünf Tage unter Metern von Schutt, ohne etwas zu essen oder zu trinken. "Ich war hungrig, so hungrig", sagt er. "Dass Benito da rausgekommen ist, ist ungewöhnlich", findet MSF-Koordinatorin Susan Sheperd. "Er hat Glück gehabt."

"Ich hatte die Hoffnung nie ganz aufgegeben", erklärt Revolus. Doch es sei schon schwer gewesen, zuversichtlich zu bleiben, als auf das eigene Rufen nie eine Antwort kam. Und ihm war auch bewusst, dass er allein, ohne Leidensgenossen, weniger Aussicht auf Rettung hatte. So verbrachte Revolus die Zeit damit, zu beten und über sein Leben nachzudenken. "Ich überlegte, wie traurig meine Mama meinetwegen sein muss", gesteht er. Er habe ihre Gebete gespürt. Und er zog eine Bilanz all seiner guten und bösen Taten. "Ich flehte Gott an, mich zu befreien, und ich versprach ihm, dass ich eine zweite Chance nicht verspielen würde." Als Erstes würde er alle noch offenen Rechnungen vergessen. Und er gelobte, "nie wieder Lotterie zu spielen".

Winzige Spalten im Trümmerhaufen ließen ihn erahnen, wann die Sonne schien, und halfen die Tage zu zählen. Am fünften Tag, kurz nach Tagesanbruch, erhörte Gott seine Gebete - und wohl auch die der Mama. "Ich hörte drei Schläge mit dem Hammer", berichtet Revolus. Den ganzen Tag über waren ein Presslufthammer, Sägen und Brechstangen am Werk. Am Nachmittag dann die Stimme eines Ausländers in gebrochenem Französisch: "Mein Freund, ich bin hier mit anderen Freunden, und wir holen dich da raus." Fünf Minuten später hob jemand ein Trümmerteil über ihm an, und das warme Licht der Abendsonne fiel herein. "Dann sah ich ein Menschengesicht. Es war ein junger weißer Mann, und er grinste", erzählt Revolus. "Er sagte 'Guten Tag', und ich antwortete 'Danke!'" Die Retter brachen in Applaus aus, wohl wissend, dass es ein Wunder war, so spät noch jemanden am Leben zu finden.

Drei Tage später geschah so ein Wunder noch einmal: Am Mittwoch wurde ein fünfjähriger Junge nahezu unverletzt gerettet. Ärzte befürchten unterdessen, dass die Zahl der Toten bei Ausbruch von Seuchen rasant weitersteigen könnte. Grund ist vor allem die schlechte sanitäre Situation in den Lagern, in denen Zigtausende Unterschlupf gefunden haben. Nördlich von Port-au-Prince wurden mit Bulldozern weitere Massengräber ausgehoben. Allein gestern wurden 10 000 Tote beigesetzt.

Trotzdem machen die Hilfsmaßnahmen langsam Fortschritte. Decken, Zelte sowie Wasser und Nahrung erreichen zunehmend die Obdachlosen. Die USA senden weitere Soldaten. Heute soll der Hafen der Hauptstadt Port-au-Prince wieder geöffnet werden. Der Flughafen ist völlig überlastet. Damit könnten noch mehr Hilfsgüter ins Land kommen. Die Vereinten Nationen bereiten ein umfassendes Beschäftigungsprogramm für Haiti vor. Bis zu 220 000 Menschen sollen beim Wiederaufbau eingesetzt und dafür bezahlt werden.