Am 11. September 1609 ankerte Henry Hudson als erster Europäer vor dem heutigen New York. In 400 Jahren wurde aus dem Urwald ein Großstadtdschungel. Hannes Stein über die zufällige Gründung einer Weltmetropole.

Es dürfte einer dieser schönen Spätsommertage gewesen sein, für die New York heute berühmt ist, als Henry Hudson am 11. September 1609 sein Schiff, die "Halve Maen", auf einem namenlosen Fluss ankern ließ. Vor einer Insel, die von den Eingeborenen "Mannahatta" genannt wurde. Vielleicht, überlieferten die Seeleute, war der Name des Eilandes auch "Manahachtanienk", was in der Eingeborenensprache angeblich bedeuten sollte: "Die Insel, auf der alle besoffen werden."

Jedenfalls bot dieser namenlose Fluss, den der Londoner Seemann Hudson und seine Crew erkundeten, viele natürliche Ankerplätze, das war schon mal sehr gut. Die Insel war eine ungewöhnlich schöne Wildnis mit einem Reichtum an Tieren und Pflanzen und Sandstränden an den Ufern. Wo heute der Times Square glitzert, bauten Biber ihre Dämme.

Die Eingeborenen, die mit ihren Einbäumen an Henry Hudsons Schiff landeten, boten Tabak und Mais zum Tausch an. Doch die Beziehungen zwischen den Männern mit der weißen Haut auf ihrem unbegreiflichen schwimmenden Haus und den Leuten mit der Bronzehaut und den asiatischen Gesichtszügen, die hier zu Hause waren, hatten sich damals schon dramatisch verschlechtert. Auch die Niederländer trauten den Indianern nicht mehr.

Ein paar Tage zuvor hatte Hudson vier Mann unter dem Kommando von John Colman mit einem Ruderboot auf Erkundungsfahrt geschickt. Die fünf gerieten in einen Hinterhalt von Eingeborenen. Zwar waren sie mit ihren Feuerwaffen den Indianern weit überlegen, aber ein Pfeil bohrte sich durch John Colmans Kehle, und er starb. Deshalb griffen sich Hudson und seine Crew zwei Eingeborene und nahmen sie mit - als Geiseln, als Dolmetscher, aus purer Rachlust? Niemand weiß es. Die Insel, auf der John Colman begraben wurde, hieß vielleicht einmal Colman's Island, aber weil die Holländer das nie aussprechen konnten, nannten sie das Inselchen Coninen oder Conye. Und als die Engländer den Niederländern 1664 die Siedlung Nieuw Amsterdam abjagten, fanden sie wiederum Conye zu schwierig und machten daraus Cunny oder auch (wie noch heute) Coney Island. Die letzte Ruhestätte des John Colman ist heute ein Vergnügungspark mit Riesenrad und Achterbahn.

Jener namenlose Fluss, auf dem Hudson und seine Männer sich vor genau 400 Jahren bewegten, und jene Insel, die Mannahatta genannt wurde, würde ein heutiger Seefahrer wohl kaum wiedererkennen. Vor allem die Südspitze der Insel hat sich radikal verändert. Ungefähr die Hälfte des festen Grundes, auf dem heute die Hochhaustürme des Finanzviertels stehen, war ganz einfach nicht da. Es gab selbstverständlich keine Hafenbauten. Tief grün muss man sich die Insel vorstellen, voller wilder Urwaldbäume, ein wenig hügelig. In dem namenlosen Fluss entdeckten die Seeleute zu ihrer großen Freude jede Menge Fische, sogar Lachse sollen in den Schwärmen mitgeschwommen sein, aber das halten Experten für zweifelhaft. Wenn Henry Hudson auf dem Deck seines Schiffes spazieren ging, atmete er klare Luft, die nach frischen Blättern und Süßwasser duftete; um ihn herum war die Welt so still wie ein Märchen. Schon damals dürfte der September, die Zeit des blauen Mondes, in jenem Landstrich die schönste Zeit des Jahres gewesen sein - die Sonne brannte nicht mehr schweißtreibend heiß, und der Winter war noch fern.

Wie war Henry Hudson überhaupt hierher gekommen? Die Auftraggeber des raubeinigen englischen Kapitäns saßen an jenem Septembertag vor 400 Jahren fast 6000 Kilometer entfernt in Amsterdam. 17 in dunkles Tuch gekleidete Herren mit weißen Halskrausen und säuberlich getrimmten Spitzbärten, wie auf einem Gemälde von Rembrandt - der Vorstand des damals größten Konzerns der Welt, der "Vereenigde Oostindische Compagnie", kurz auch VOC genannt. Die Niederländische Ostindienkompanie hielt das Monopol auf den Handel mit dem Fernen Osten, ihre Dreimaster schipperten Gewürze von den Molukken quer über die Weltmeere nach Europa. Henry Hudson war angeheuert worden, um eine Abkürzung des Seeweges nach Asien zu finden. Er wollte einen Platz auf der Liste der großen Entdecker, auf der schon Kolumbus, Magellan und da Gama standen. Laut Vertrag, für den er 800 Gulden erhielt, sollte er mit der "Halve Maen" an jenem 11. September längst in China sein. Im Preis inbegriffen war nicht nur sein Honorar, sondern auch das Auskommen für seine Frau und Kinder, und er musste außerdem noch die Ausstattung für sein Schiff begleichen. Allerdings war Hudson schon zweimal bei dem Versuch gescheitert, eine Nordostpassage nach Asien zu finden, und darüber in Depressionen verfallen. Trotzdem vertrauten ihm die Holländer ihr Schiff an.

Am 4. April 1609 hatte die "Halve Maen" in Amsterdam ihre Segel gesetzt. Und als Henry Hudson, den übellaunige Niederländer für einen englischen Spion hielten, die Barentssee erreicht hatte, drehte er scharf nach Nordnordwest ab. Statt eine Nordpassage nach Asien zu erkunden, wie ihm seine Arbeitgeber aufgetragen hatten, segelte er Amerika entgegen. Er navigierte in die damals noch namenlose Bucht hinein. Und er fand nicht, was er gesucht hatte, sondern einen der größten natürlichen Häfen der Welt.

Trotz des schönen Wetters war Hudson nach der Entdeckung Manhattans nicht in New York geblieben. Ihm war klar, dass er erneut gescheitert war. Am 4. Oktober segelte er weiter, den namenlosen Fluss hinauf, der heute seinen Namen trägt, bis zur heutigen Hauptstadt Albany.

Der erste New Yorker, der kein Indianer war, kam dann knapp vier Jahre später dort an, im Sommer 1613. Er war ein dunkelhäutiger Latino namens Jan Rodrigues - Sohn einer afrikanischen Mutter und eines portugiesischen Vaters. Jan Rodrigues gehörte zur Besatzung der "Jonge Tobias". Er muss sich mit dem Kapitän des Schiffes oder seiner Mannschaft verkracht haben. Denn sie setzten ihn auf der unerforschten großen grünen Insel aus. Seine Kameraden gaben ihm nur eine Muskete, ein Schwert und ein paar Messer zur Selbstverteidigung mit - und 80 Äxte, damit er aus den Schätzen der Natur ein wenig Handel treiben konnte. Rodrigues heiratete dann in einen örtlichen Indianerstamm ein, lernte dessen Sprache und arbeitete als Übersetzer zwischen den Eingeborenen und holländischen Geschäftsleuten, die zu Besuch kamen.

In diesem Sinne war Jan Rodrigues ein echter New Yorker. Er fand sich in einer wildfremden Umgebung wieder, machte das Beste daraus und fand am Ende sein Einkommen. So begann eine unendliche Geschichte, die seither die Stadt geprägt hat. Jeder Niederländer, jeder Deutsche, jeder Brite, jeder Ire, jeder Russe, jeder Iraner, jeder Inder, jeder Jamaikaner, jeder Mexikaner, nicht zuletzt auch jeder Jude, der seit Rodrigues auf dieser Insel gelandet ist, hat in New York vergleichbare Erfahrungen gesammelt.

Die Stadt erlebte Höhen und Tiefen. Sie war 60 Gulden (etwa 20 Euro) wert, als niederländische Kaufleute sie den Indianern abkauften. Ihr Schicksal bestimmte erst die holländische, dann die britische Krone, ehe George Washington 1783 im Triumphzug in New York einmarschierte. Wälder wurden gerodet, Sümpfe trockengelegt, Hügel eingeebnet. Die Stadt überlebte Hungersnöte, Katastrophen und einen Bürgerkrieg. Fast 300 Jahre nach Henry Hudson vereinte sich Manhattan mit Brooklyn, Queens, Staten Island und der Bronx zum großen New York.

In dieser Woche begehen die New Yorker den 400. Jahrestag der Ankunft Henry Hudsons, das niederländische Kronprinzenpaar Willem-Alexander und Máxima feiert mit. Parallel gedenken sie der größten Wunde in der Geschichte der Stadt. Denn auch der Massenmord, der 392 Jahre nach der Ankunft der "Halve Maen" fast 3000 Menschenleben forderte, geschah an einem 11. September. Für Mohammed Atta und seine Terroristen, die zwei Flugzeuge voller Passagiere in die Zwillingstürme des World Trade Centers steuerten, war dieses New York als Symbol der westlichen Welt ein Sündenbabel: eine Stadt, in der sich Ungläubige jeder Schattierung und Hautfarbe tummeln, eine Metropole, in der Homosexualität nicht mit Steinigung bestraft wird, eine Civitas, in der Kirchen neben Synagogen und Moscheen stehen und in jedem Buchladen atheistische Pamphlete verkauft werden. Das war diesen fanatischen Jüngern Allahs ein Gräuel; das war der Wirklichkeit gewordene Traum, den sie zerstören wollten. Aber selbst wenn schon morgen eine schmutzige Bombe auf der Insel explodieren sollte, die einst Henry Hudson als Ankerplatz diente: Es wird ihnen nicht gelingen.

Als Hudson seine Eindrücke von der Insel Mannahatta niederschrieb, fand er: "Dies ist die angenehmste Gegend, die man sich vorstellen kann."