Der 61 Jahre alte Handwerker hat beim schwersten Bahnunglück in der Geschichte der Bundesrepublik Frau und Tochter verloren. Erst heute kann er offen darüber sprechen.

Bobingen. Er hat fast nichts verändert in ihrem Zimmer. Der schmale Schreibtisch steht vorm Fenster. Mit den Büchern im Regal darunter. Oben auf dem Schrank sitzen die Stofftiere. Alles so, als würde Elisabeth im nächsten Moment hereinstürmen, die Musikanlage aufdrehen und sich auf ihr Bett werfen. Unter das Poster der Hamburger Band Fettes Brot. "Die fand sie toll", sagt Jakob Wild (61). "Deshalb wollte sie wohl auch unbedingt hochfahren." Herr Wild ist groß, ein kräftiger Mann mit tiefer Stimme. Im Zimmer seiner Tochter wirkt er verletzlich. An einer Schranktür klebt ein Terminkalender für 1998. "Party" hat die 15-Jährige neben den 5. Juni gekritzelt, ein Freitag. Am 3. Juni steht nichts. Es ist der Tag, an dem das Leben von Jakob Wild aus den Fugen geriet. Es ist der Tag, an dem seine Tochter und seine Frau - beide auf den Namen Elisabeth Maria getauft - starben, als der ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" um 10.59 Uhr gegen einen Brückenpfeiler im niedersächsischen Eschede raste. "Es ist etwas zerbrochen in mir", sagt Wild. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, aber vorbei ist nichts. "Der Verlust hat sich eingebrannt." Wie ein Wundmal in seiner Seele. Wild hat gezögert, über sein Leben nach diesem Schicksalstag zu sprechen. Die erwachsenen Söhne, Georg und Harald, wollten es nicht. Jetzt sitzt er am Esszimmertisch in seinem großen Haus im bayerischen Bobingen. Er gießt Kaffee in zartes Porzellan. "Das hat Lissy so gemocht", sagt er. Lissy, seine Frau. An der Wand hängt ein Foto der damals 51-Jährigen mit der Tochter. Die wuchtige Couchgarnitur, eine Stehlampe, der Blick hinaus auf die Dachterrasse. "Das ist mein Haus. Ich wollte nie hier weg", sagt Jakob Wild. "Wir haben uns das hart erarbeitet." Er spricht langsam, bedächtig, als habe er jeden Satz, jedes Wort tausendmal gedacht. Schaut in eine Leere, die nur er fühlt.

Eine Leere, die nicht zu füllen ist seit dem 3. Juni 1998. Er selbst hatte Frau und Tochter an jenem Morgen nach Augsburg zum Bahnhof gebracht. Damit sie sicher ankommen. Es war ein Spontantrip am Ende der Pfingstferien, zwei Tage Hamburg. "Sie wollten ein bisschen bummeln, Spaß haben." Um 6.20 Uhr schlossen sich die Türen des ICE 884. Mutter und Tochter saßen in Wagen 4. "Als der Zug rausfuhr, habe ich ein Geräusch gehört: bam, bam, bam. Als ob etwas auf die Gleise schlägt." Damals habe er sich nichts dabei gedacht. "Heute bin ich mir sicher, dass da schon etwas mit dem Zug nicht in Ordnung war. Dass es die Ursache für das Unglück war."

Wild fuhr zurück in seine Glaserei in Bobingen, ein Familienbetrieb, in den er 29 Jahre zuvor eingeheiratet hatte. Es war ein ganz normaler Mittwoch. Bis kurz nach 14 Uhr einer seiner Söhne von einem entgleisten ICE berichtete. Die erste Ahnung, dass etwas passiert sein könnte. "In den Radionachrichten um 15 Uhr haben sie dann von 30 Toten gesprochen", sagt er, selbst Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Bobingen. "Da wusste ich, dass es etwas Größeres ist."

Er wählt die Telefonnummer der Angehörigen-Hotline. Man verspricht einen Rückruf. Doch es ruft niemand zurück. Nicht am Mittwoch. Nicht am Donnerstag. Wie er die nächsten Tage überstanden hat, weiß er heute nicht mehr. "Es war die Hölle." Warten, hoffen, bangen. Und im Fernsehen die Bilder von der Katastrophe.

Erst am Freitag meldet sich jemand von der Hotline, er soll eine Vermisstenanzeige erstatten. Er fährt zur Polizeiwache. "Meine Frau konnte ich gut beschreiben, aber bei meiner Tochter war das schwieriger. Ich wusste nicht mehr genau, was sie anhatte." Wie ferngelenkt besorgt er noch am Abend die geforderten Zahnschemata beim Zahnarzt. Über eine Bekannte bekommt er einen ersten Kontakt nach Eschede. "Es hieß dann: Wagen 4 ist geräumt." Eigentlich weiß er es da, aber gibt die Hoffnung nicht auf. Kann es nicht.

Drei Tage nach der Katastrophe, am Sonnabend, kommen zwei Kriminalbeamte, suchen nach Fingerabdrücken. "Ich habe nur auf dem Sofa gesessen, mein Gehirn hat gekocht", sagt Wild. Jetzt kommen die Worte schneller, als ob die Erinnerung lebendiger ist als die Gegenwart. Am Abend dann die Gewissheit: "Ihre Frau ist tot."

Aber nichts über Elisabeth. "Wir haben dann noch mal alte Fotos angeschaut, ihre Besonderheiten wie Muttermale durchgegeben. Man will sich melden. Doch nichts passiert. Nicht am Sonnabend. Nicht am Sonntag. Erst am Montag stehen wieder zwei Polizisten vor der Tür: "Ihre Tochter ist auch tot."

Auch da fährt Jakob Wild noch nicht nach Eschede. Anders als viele andere Angehörige der 101 Todesopfer, der mehr als 100 Verletzten. "Das hätte nichts gebracht", sagt der Feuerwehrmann. "Wir hätten uns nur gegenseitig angeheult." Stattdessen stürzte er sich in die Organisation der Trauerfeier. "Ein Jugendchor hat 'Island in the sun' von Harry Belafonte gesungen." Danach war er drei Wochen wie gelähmt. "Ich habe zu viel getrunken, wollte nur vergessen." Die Einsamkeit schlich sich in sein Leben. Bis heute kann er keinen Liebesfilm sehen, es schmerzt ihn, allein zu einer Einladung zu gehen. 1968 hatte er seine Lissy kennengelernt, ein Jahr später waren sie verheiratet. "Es war Liebe auf den ersten Blick." Überall im Haus hängen Fotos, Urlaubsschnappschüsse. Sie erzählen die Geschichte einer glücklichen Familie. Dazwischen Ölbilder seiner Frau, Fernwehlandschaften. Doch jetzt atmet alles Vergangenheit. Als ob das Haus niemandes Heimat mehr ist. Eine Küche, in der niemand kocht. Niemand füllt die Vasen und Kerzenständer in den Regalen. "Es fehlt das Weibliche, das Warme", sagt Wild. "Das kann man nicht ersetzen." Er hat es versucht. Hatte sogar eine Frau gefunden. "Aber es hat sich nicht gehalten."

Aber Jakob Wild ist keiner, der aufgibt. Irgendwann in dem Jahr nach der Katastrophe, die sein Leben zerstörte, ist er aus seiner Lethargie erwacht. "Ich wollte wissen, was passiert ist, habe jeden Mosaikstein gesucht." Über einen Zeitungsartikel machte er eine Familie in Erding ausfindig, deren siebenjährige Tochter in Eschede ums Leben gekommen war. "Sie saßen auch in Wagen 4." Da wusste er schon, dass der Waggon bei 200 Stundenkilometern hinter dem entgleisten Wagen 3 aus den Gleisen gesprungen und eine Böschung hinuntergestürzt war. Über den Kontakt fand Wild einen jungen Feuerwehrmann aus Celle, der bei der Bergung dabei war. "Ich wollte wissen, wie sie ausgesehen haben." Dass "alles dran" gewesen sei, habe ihn getröstet. "Sie haben wohl gedöst, sind schlafend in den Tod gegangen." Inzwischen hat Wild 13 Aktenordner zu dem Unglück und etliche Bekannte in Eschede und Umgebung. "Wir haben uns gegenseitig geholfen", sagt er.

Die Ordner stehen im Schlafzimmer, neben der zugedeckten Bettseite seiner Frau. Hunderte Seiten Papier, die Dokumentation einer Tragödie: Einsatzpläne, Augenzeugenberichte, Presseartikel, Protokolle, die Rundschreiben der "Selbsthilfe Eschede", natürlich die Korrespondenz mit der Bahn zu den zähen Schadensersatzzahlungen, Unterlagen zum später eingestellten Strafprozess gegen drei Bahnmitarbeiter. Es ist auch die Dokumentation einer Enttäuschung. "Es bleibt einfach beschämend, wie die Bahn sich verhalten hat, wie die Verantwortlichen sich weggeduckt haben." Je 30 000 Mark Schadenersatz habe er für den Tod von Frau und Tochter bekommen. 30 000 Mark für ein Menschenleben. Außerdem konnte er einen sogenannten Haushaltsführungsschaden geltend machen. Doch viel schlimmer ist: "Dass die Bahn sich nicht entschuldigt hat."

Auch deshalb hat er gemeinsam mit dem Sprecher der "Selbsthilfe Eschede", Heinrich Löwen, für das Mahnmal an der Unglücksstelle in Eschede gekämpft: 101 Namen und Geburtsdaten unter 101 Kirschbäumen. An jedem Jahrestag ist er dort gewesen, hat sich mit anderen Angehörigen und Verletzten getroffen. Auch dieses Jahr wird er kommen. "Der zehnte Jahrestag ist etwas Besonderes", sagt Wild. Dass dann der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff sprechen wird, stört ihn eher. "Wir brauchen keine Politshow." Aber vielleicht, hofft er, wird es danach etwas ruhiger. Er hat inzwischen die meisten Kontakte zu anderen Betroffenen einschlafen lassen. "Die Erdinger Familie, deren Tochter gestorben war, hat wieder ein Kind bekommen", sagt er. "Jeder muss selbst fertig werden."

Er sagt auch, dass er sich verändert habe, sagt Wild. Erst vor Kurzem hat er eine schwere Krebsoperation überstanden. Seitdem hat er sich aus seinem Geschäft zurückgezogen. "Da ist schon die Frage nach dem Warum", sagt er. Und weiß keine Antwort. "Der Glaube hat mir geholfen." Oft geht er zum Friedhof, manchmal wandelt er durch sein viel zu großes Haus. Landet im Zimmer seiner Tochter. Er sieht die Todesanzeigen, die Elisabeths Freundinnen in die Zeitung gesetzt hatten. Liest ein Gedicht, das sie ihr gewidmet haben. Kontakte gibt es nicht mehr. "Elisabeth wäre jetzt 25 Jahre alt. Ich hätte so gern erlebt, was aus ihr wird", sagt er und wischt den Staub von einem Kerzenständer.