Die Gasthäuser heißen Rebstock oder Edelweiß und servieren Eisbein und Erdbeertorte. Doch hinter der touristischen Fassade leben immer weniger echte Nachfahren jener badischen Siedler, die vor 160 Jahren hier neu anfingen.

Colonia Tovar. Samuel Briceño Kanzler sitzt auf einem Holzstumpf in seinem Garten und blickt gedankenverloren auf die Dorfkirche aus schwarz-weißem Fachwerk. "Das ist nicht mehr meine Welt", murmelt er. Dicke Jeeps quetschen sich durch die Calle Hessen, Abgase verpesten die Bergluft, vor dem Cafe Muhstall ertönt ein Hupkonzert. Ein Wegweiser zeigt rechts in die Hauptstadt Caracas, links ins Dorfzentrum der Colonia Tovar. Der 65 Jahre alte Dorfhistoriker Briceño Kanzler fürchtet den Einfall der venezolanischen Touristen am Wochenende. Dann ist es vorbei mit der Beschaulichkeit in der 1843 gegründeten Schwarzwald-Kolonie.

Die Colonia Tovar ist deutscher als manches Schwarzwalddorf - auf den ersten Blick zumindest. Der Lottoladen heißt Das Glück, die Bäckerei Das Brot. Der Verkaufsschlager ist die Wurst. "Ein guter Gast findet hier Rast. Ein froher Gast ist niemals Last", steht in Sütterlin-Schrift im Muhstall als Wandspruch geschrieben. Trachten tragende Kellnerinnen mit tief ausgeschnittenen Dekolletees servieren Erdbeertörtchen aus Mürbeteig mit einem großen Klacks Schlagsahne oder wie bei Oma in der Küche duftendes Eisbein mit Sauerkraut. Die Restaurants und Hotels heißen Rebstock, Edelweiß, Baden, Freiburg, Schwarzwald oder schlicht Bierstube.

Doch hinter der Fassade ist nicht alles deutsch, was glänzt: Durch den Tourismus verliere die Kolonie langsam, aber stetig ihre Traditionen, sagt Historiker Kanzler, diese einseitige Ausrichtung fresse das historische Erbe der Koloniegründer auf. Das ist es, was ihn pessimistisch stimmt. Es gebe starke Spannungen in der Kolonie, die einen wollen das Erbe bewahren und plädieren für einen sanften Tourismus. "Aber die Ortsvorsteher würden sogar noch die Mülltonnen gewinnbringend vermarkten."

Und zu den inneren Problemen gesellt sich nun auch noch Unheil von außen: Venezuelas Volkstribun Hugo Chavez hat ein Auge auf die florierende Siedlung geworfen. In seiner wöchentlichen Fernsehsendung "Alo Presidente!" deutete er unlängst an, dass er sich die Colonia Tovar ganz gut als zweiten Regierungssitz vorstellen könnte. Die Deutschstämmigen - knapp 3000 in Tovar, 16 000 in der Region - fürchten, dass im Zuge der von Chavez geplanten Sozialisierungsprojekte auch die Gebietsschenkungen von 1843 rückgängig gemacht und Ländereien beschlagnahmt werden könnten. "Wenn sie kommen, verteidige ich mein Haus zur Not mit dem Gewehr", sagt Samuel Briceño Kanzler.

Der Historiker lebt in der Villa Jahn, einem Haus der Gründerväter. Die Wohnzimmer-Dielen knarzen, die rot karierten dicken Stoffgardinen muffeln nach langer Geschichte. Während draußen venezolanische Touristen Kuckucksuhren und Schinken kaufen, blättert Kanzler drinnen in seinem Buch "La Colonia Tovar y su gente" (Die Colonia Tovar und seine Menschen). "Das kann man auch kaufen, aber keiner kauft es", sagt er. Die Besucher wollten nur eine Art deutsches Disneyland erleben. 1964 wurde die Colonia Tovar per Regierungsdekret zur Tourismuszone deklariert. Zunächst kamen nur ein paar Deutsche vorbei, um die Kuriosität in der tropischen Bergkordilleren - unweit der Karibikküste - unter die Lupe zu nehmen. In den 80er-Jahren setzte der venezolanische Massentourismus ein. Ein Zusammenprall der Kulturen, der Fluch und Segen zugleich für die Kolonie bedeutet.

Das Tragen der Trachten sei doch nur Theater für die Touristen, sagt Kanzler. Er träumt davon, historische Touren anzubieten, bei einem Rotwein gemeinsam Gedichte der Kolonie vorzulesen und die über Generationen weitergegebenen Anekdoten zu erzählen. Aber auch sein eigener Stammbaum ist Indiz für die Veränderungen der Zeit: Die Mutter ist Deutsche, der Vater Venezolaner. "Unsere Familie hat sich komplett vermischt, nur noch 20 Familien sind vollständig deutschstämmig", sagt er.

Das sei nicht weiter schlimm, nur interessiere sich gerade die Jugend zu wenig für die Ursprünge der Kolonie. Beispielsweise dafür, wie die Urururgroßväter hierher gekommen sind. Der venezolanische Staat hatte 1842 tüchtige Einwanderer gesucht, um das Land zu kolonisieren. Der italienische Geograf Agustin Codazzi bekam den Auftrag, Siedler zu werben. Codazzi wurde im Kaiserstuhl in Baden fündig. Hungersnot und Elend ließen die Menschen von einem neuen Leben träumen. In wenigen Wochen erklärten sich 80 Familien zur Auswanderung bereit.

Am 18. Dezember 1842 machten sich 389 Wagemutige - überwiegend aus Endingen und Wyhl - rheinabwärts auf den Weg nach Straßburg. Von dort ging es für die Maurer, Handwerker, Metzger, Schuhmacher und Bauern drei Wochen zu Fuß 680 Kilometer bis zum Hafen in Le Havre und dann per Schiff nach Venezuela. Nach 112 Tagen Reise erreichten sie - von Durchfall und Gelbfieber gezeichnet - im April 1843 ihre neue Heimat.

Ein Problem liegt 164 Jahre später darin, dass die Mehrheit der nachfolgenden Generationen niemals in der alten Heimat gewesen ist. "Wir wüssten gerne, ob es im Schwarzwald wirklich noch so aussieht wie hier bei uns", sagen die beiden 30-jährigen Muhstall-Kellnerinnen Carmen Misle und Miriam Gutt. Durch die Hochzeit des Kolonisten Pablo Dürr aus Tovar mit einer Dame aus dem Kaiserstuhl wurden seit Ende der 70er-Jahre die Bindungen zur Heimat wieder enger und Traditionen wie die Fastnacht neu belebt. Wer aber in Tovar heute noch blonde Menschen mit akkurat geschnittenen Schnurrbärten erwartet, muss in die abgelegenen Siedlungen außerhalb der kleinen Stadt fahren. Dorthin, wo die Menschen weiter isoliert leben, wo die Frauen lange Kleider und Stoffhauben tragen, Sätze wie "Jede Dag in d'r Früh fange mer an un geh'n rüs uf's Feld. Mir läbe vun d'r Landwirtschaft" sprechen und den Tag in Erdbeer- und Mangoldfeldern verbringen. Die Mundart, die Architektur, das Essen und die alemannische Fastnacht zeigen die Herkunft der emsigen Siedler.

Was kaum noch zu finden ist, ist klassisches Deutsch. "Wir können alles außer Hochdeutsch" - dieser Werbeslogan Baden-Württembergs lässt sich hervorragend auf den kleinen Ableger in Venezuela übertragen. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Kolonie ihre Sprache genommen, Deutsch durfte nicht mehr unterrichtet werden. Als Venezuela 1945 Deutschland den Krieg erklärte, musste auch Deutschlehrer Richard Aretz die Colonia Tovar und das Land verlassen.

"Abgesehen von einigen Wiederbelebungsversuchen in den 90er-Jahren war dies das Ende des flächendeckenden Deutschunterrichts", sagt Haidi Collin, Kulturbeauftragte der Kolonie. Was sich hingegen bis heute vererbt hat, ist die badische Mundart. "Bi uns ka mer au alemannisch schwätze", steht auf einem Aufkleber an Collins Computer.

Draußen am Haus prangt ein riesiger gelb-rot-blauer Jokili, die eulenspiegelhafte Hauptfigur der Fastnacht in Endingen - dem Herkunftsort der meisten Einwanderer der Colonia Tovar. Das sei die andere Seite der Medaille, sagt die 40-Jährige. "Weil die Besucher als Einnahmequelle so wichtig sind, werden Traditionen wie die Fastnacht besonders stark gepflegt."

Nicht nur die Colonia Tovar hat mit dem Zwiespalt zwischen Kultur und Kommerz zu kämpfen, anderen deutschen Gemeinschaften in Lateinamerika geht es ähnlich. Etwa sechs Millionen Deutschstämmige gebe es heute in Lateinamerika, sagt der Kölner Historiker Holger M. Meding. Die Zahl der Deutschsprechenden beläuft sich aber schätzungsweise nur auf rund zwei Millionen. Welche Möglichkeiten es gibt, eine Integration in Venezuela oder anderen lateinamerikanischen Ländern zu schaffen, ohne die Wurzeln nach Deutschland zu kappen, diskutierten alle deutschen Gemeinschaften in Lateinamerika kürzlich bei einem Treffen in der Colonia Tovar.

Durch eine stärkere Vernetzung, Einbindung der Jugend und eine Förderung von Austauschprogrammen mit der deutschen Heimat wolle man dem aktuellen Trend entgegenwirken. Haidi Collin und Samuel Briceño Kanzler hoffen auf neuen Enthusiasmus, Traditionen nicht nur zu dekorieren, sondern mit Leben zu füllen und den Kontakt zur Heimat zu stärken. Die Colonia Tovar ging mit gutem Beispiel voran: Aus Anlass des Treffens traten Alphornbläser vom Kaiserstuhl auf.