London. Abigail, die Lebhafte und Störrische, mag Orangensaft zum Frühstück, während Brittany, der Witzbold der Familie, immer Milch trinkt. Abigail liebt Rosa und alles Mädchenhafte; ihre Schwester zieht Lila vor und mag ungewöhnliche Hüte. Seit ihrem 16. Geburtstag experimentieren die Zwillinge mit Make-up und kichern darüber, welche Jungs sie mögen. Doch hier hören die Ähnlichkeiten mit anderen Geschwistern auf. Denn Abigail und Brittany Hensel aus Minnesota (USA) teilen sich einen Körper. Sie haben Kontrolle über je eine Körperhälfte, doch dies hält sie nicht davon ab, ein erfülltes und aktives Leben zu führen.

Die Zwillinge gehen schwimmen, fahren Fahrrad, spielen Volleyball und Klavier. Abigail übernimmt die Parts der rechten Hand, Brittany die der linken. An ihrem 16. Geburtstag bestanden sie die Fahrprüfung. "Abby bedient die Pedale und schaltet", so Brittany. "Ich bediene die Blinker und das Licht. Doch sie will immer schneller als ich fahren."

Die Hensels sind eines von vier zweiköpfigen Zwillingspaaren der Geschichte, die das Babyalter überlebt haben. Die Mädchen haben zwei Wirbelsäulen, die am Becken zusammengewachsen sind, zwei Herzen und zwei Mägen, drei Nieren, zwei Gallenblasen und vier Lungenflügel (von denen zwei miteinander verbunden sind), eine Leber, einen gemeinsamen Blutkreislauf und ein zum Teil gemeinsames Nervensystem. Unterhalb der Taille teilen sie sich sämtliche Organe, darunter den Darm und die Fortpflanzungsorgane. "Trotzdem sind wir zwei verschiedene Menschen", sagt Brittany, und Abigail fügt hinzu: "Ich mag Rosa, Brittany kann es nicht ausstehen. Also wechseln wir uns ab. Einen Tag suche ich die Klamotten aus, am nächsten Tag ist sie dran."

Die Eltern Patty (46) und Mike (47) Hensel haben nie in Betracht gezogen, die Mädchen operativ zu trennen - aus Furcht, eine oder beide könnten sterben. Auch die Zwillinge sind dagegen: "Wir möchten nie getrennt werden", sagt Abigail. "Dann könnten wir kein aktives Leben mehr führen und die Dinge tun, die uns Spaß machen." Nach einer Trennung hätten beide je nur einen Arm und ein Bein und wären an den Rollstuhl gefesselt. Patty, eine Krankenschwester, hatte bis zur Geburt keine Ahnung, dass sie Siamesische Zwillinge bekommen würde. "Ich fand sie vom ersten Moment an wunderschön. Ich küsste zuerst Abi, dann Brit, danach umarmte ich sie. Und so ist es immer noch: zwei Küsse und eine Umarmung für die schönsten Kinder der Welt."

Die Hensels leben mit den Zwillingen und deren jüngeren Geschwistern Dakota (14) und Morgan (12) in einem 300-Seelen-Dorf in Minnesota. Die Mädchen gehen auf die örtliche Kirchenschule, wo sie bei ihren Mitschülern beliebt sind und wie jeder andere behandelt werden. Nur wenn die Familie sich aus der Geborgenheit der Gemeinde wagt, kann die Neugier Fremder verletzen. "Einmal hörte Patty, wie ein Junge seine Mutter fragte, ober er das Mädchen mit den zwei Köpfen gesehen habe. Wir haben darüber gesprochen."

"Wenn die Mädchen so etwas gefragt werden, sagen sie, dass jede ihren eigenen Kopf hat", sagt Patty. "Wir wollen, dass sie Individualität entwickeln. Das bedeutet, dass bei jedem Kinobesuch zwei Karten gekauft werden, obwohl nur ein Sitz benutzt wird - und jede beim Essen einen eigenen Teller hat. Eine hält die Gabel, die andere das Messer, gegessen wird abwechselnd."

Obwohl Britanny, der linke Zwilling, kein Gefühl in der rechten Körperseite hat, und Abigail keines in der linken, koordinieren die Mädchen ihre Gliedmaßen instinktiv so, als wären sie tatsächlich eine Person, und schreiben sogar gemeinsam E-Mails. Vielleicht am bewegendsten jedoch ist, wie gut Abigail und Brittany trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere miteinander auskommen: Wenn der einen eine Stelle am Körper juckt, an die sie selbst nicht herankommt, kratzt die andere für sie; wenn eine in der Mathestunde rechnen will, hält die andere die Hand still, und als Brittany eine Lungenentzündung hatte und die Medizin nicht selbst schlucken konnte, nahm Abigail sie für ihre Schwester ein.