Expedition: Drei Abenteurer verlängern den längsten Strom der Erde um hundert Kilometer. Die Frage, wo die berühmtesten Wasser der Menschheit ihren Ursprung haben, faszinierte schon die Pharaonen. Ist sie jetzt endgültig beantwortet?

Hamburg. Die letzten sieben Tage stapfen sie durch Sand und Sumpf, Schlamm und die äußerst anhänglichen Schlingpflanzen des Regenwalds von Ruanda. Dann ist es geschafft. Im Nyungwe Forest, den sonst kaum je ein Weißer durchstreifte, stehen die drei Forscher an einem Ziel, das schon seit Anbeginn der Welt wie wohl kein anderer Ort Entdeckungsreisende lockt: der Quelle des längsten Stroms der Erde, des Nil.

"Die Geschichte wird neu geschrieben!" jubelt der Brite Neil McGrigor anschließend vor den herbeizitierten Kameras und berichtet mit seinen neuseeländischen Kollegen Cam McLeay und Garth McIntyre von einer Expedition über 6700 Kilometer durch fünf afrikanische Staaten mit gefährlichen Stationen: einem Angriff von Rebellen im Norden Ugandas, die einen afrikanischen Helfer der Forschungsreisenden ermordeten, sowie einer notgedrungen waghalsigen Bootsfahrt durch Stromschnellen und höchst bedenkliche Krokodilgewässer. Auf den letzten 70 Kilometern mußten die drei Männer ihr Boot zurücklassen und wateten schwer bepackt durch den dichten Dschungel, der den Vorstoß mal mit armdicken Lianen, dann wieder durch reißende Wildwasser zur strapaziösen Herausforderung adelte.

Der geographische Ertrag scheint auf den ersten Blick nicht eben berauschend: die Erkenntnisse der drei von der weltfernen Tankstelle, aus der die schon seit biblischen Zeiten berühmtesten Wasser der Menschheitsgeschichte fließen, verlängern den Lauf des Stroms lediglich um ganze hundert Kilometer. Daß die Nachricht vom Erfolg der Expedition dennoch in Blitzesschnelle rund um den Globus fliegt, schulden die Entdecker einem Mythos: Die Frage, wo der Nil entspringe, fasziniert die Menschen seit fünftausend Jahren.

Zur Pharaonenzeit kennen nur Priester die Antwort: Für sie ist der Nil das Urwasser, der Urschlamm, dem alles Leben entsteigt. Seine jährlichen Überschwemmungen spiegeln das Schöpfungswerk wider, und sein Ursprung wird in den geheimnisvollen Mondbergen gedacht, an unzugänglichem Ort, nach dem berühmten "Totenbuch" der Ägypter bewacht von zwei grauenvollen Dämonen. Doch seit dem kritischen Griechen Herodot rückt wissenschaftlicher Erkenntnisdrang dem Mysterium Stück für Stück näher.

Herodot wagt sich bei seinen Recherchen um 460 v. Chr. immerhin bis zu den Nilkatarakten von Assuan, findet es dort aber aussichtslos, nähere Informationen einzuholen: Alles, was der große Historiker noch weiter in Erfahrung bringen kann, sind vage Andeutungen über verborgene Brunnen im tiefsten Inneren Afrikas.

Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr. landet der griechische Kaufmann Diogenes auf der Rückkehr aus Indien an Afrikas Ostküste, marschiert 25 Tage lang ins Land hinein und findet zwei große Seen sowie eine schneebedeckte Bergkette, zwischen denen der Nil aus zwei Quellen hervorsprudelt. Roms geltungssüchtiger Kaiser Nero schickt zwei Hauptleute los, die Sache zu untersuchen. Die beiden Offiziere marschieren durch die Wüsten Nubiens bis zu einem undurchdringlichen Sumpf - es ist der Sudd im Südsudan, den noch heute kein Fuß und erst recht kein Fahrzeug durchquert. Selbst moderne Flußdampfer haben ihre Schwierigkeiten mit dem schier undurchdringlichen Gewirr wuchernder Wasserpflanzen in dieser amphibischen Welt aus ständig mäandernden Flußarmen und schwimmenden Inseln aus meterhohem Elefantengras.

1800 Jahre später ist China erreicht, Amerika besiedelt, Australien entdeckt und die Sahara durchquert - doch das schwarze Herz Afrikas bleibt ein weißer Fleck auf der Landkarte. Erst die moderne Naturwissenschaft will sich mit mythischen Erklärungen nicht mehr zufriedengeben und geht der Sache auf den Grund: Sind die legendären Mondberge der Kilimandscharo und der Mount Kenya? Ist der Weiße Nil länger als der Blaue Nil, der aus dem Hochland Äthiopiens herabströmt? Und führt der Weg zu seinen Quellen auch zu Gold und Edelsteinen? Die Fragen faszinieren einige der berühmtesten Entdecker der Welt. Es sind höchst unterschiedliche Naturen, doch allen passen die großen Schuhe, die der mächtige Strom bei den Männern voraussetzt, denen er sich offenbaren soll - es sind Abenteurer der Extraklasse.

Sir Richard Burton (1821-1890) hat als Afghane verkleidet Mekka und Medina gesehen und besucht 1854 als erster Europäer das geheimnisumwitterte äthiopische Harrar, das "Timbuktu des Ostens". Später besteigt er den Kamerunberg und übersetzt "Tausendundeine Nacht" ins Englische.

John Hanning Speke (1827-1864) kämpft im Krimkrieg, wird in Somalia verwundet, begründet die "Hamiten-Theorie" von den hellhäutigen Stämmen Nordostafrikas als den wichtigsten Kulturträgern des Schwarzen Erdteils und kommt nach Hunderten haarsträubender Abenteuer bei einem Jagdunfall ums Leben - im heimatlichen England.

David Livingstone (1813-1873) trotzt als Missionar in Südafrika den Sklavenhändlern, steht als erster Europäer an den Victoriafällen, wird als verschollen gemeldet.

Henry Morton Stanley (1841-1904), Reporter des "New York Herald", sucht den Verschollenen und begrüßt den Gefundenen unter lauter Einheimischen mit dem berühmten Satz: "Mr. Livingstone, I presume?" Später erschließt er für König Leopold II. von Belgien das Kongogebiet. Der riesige See an der Mündung des zentralafrikanischen Riesenstroms, an dem bald Bundeswehrsoldaten patrouillieren sollen, trägt seinen Namen: "Stanley Pool".

Sir Samuel White Baker (1821- 1893) war Pflanzer auf Ceylon, kaufte seine Ehefrau Florence auf einem türkischen Sklavenmarkt in Ungarn, nahm sie mit nach Afrika und segelte mit drei Schiffen auf dem Nil nach Süden.

Ein Feingeist, ein Krieger, ein Missionar, ein Reporter, ein Kavalier - allesamt keine leicht zu übertreffenden Vorbilder für ihre britisch-neuseeländischen Epigonen. Burton entdeckt den Tanganjika-See. Speke marschiert weiter zum Viktoriasee und stellt fest, daß der Nil dort hindurchfließt. Livingstone kommt von Süden zum Tanganjikasee und sucht die Nilquellen in den höchst ungesunden Bangweolosümpfen, wo ihn prompt die Ruhr erwischt. Treue einheimische Gefährten tragen seinen Leichnam zur Küste, damit er in England bestattet werden kann.

Stanley setzt Livingstones Suche fort, biegt aber dann nach Westen ab und folgt dem zweitlängsten Strom Afrikas, dem Kongo, bis zur Mündung. Baker entdeckt den Albertsee und den Victoria-Nil. Den heute allgemein als Quellfluß anerkannten 850 Kilometer langen Kagera vermessen erst spätere Forscher. Sein Quellgebiet in Ruanda aber entdeckt 1898 ein Deutscher: Richard Kandt (1867-1918), Psychiater in Bayreuth und München. Er gründet auch die Hauptstadt Kigali, die ihn heute mit einem Museum ehrt.

Solche Würden sind den drei jüngsten Namen im Nilquelle-Katalog ferne, doch ernten sie wenigstens die finanziellen Früchte des Medienzeitalters: Ihr Buch steht schon jetzt unter Bestsellerverdacht - das verdiente Dankeschön einer Zeit, die es seit GPS und dem Navigator für jedermann nicht nur schätzt, daß weiße Flecken ausgefüllt werden, sondern daß es überhaupt noch welche gibt.

Ganz so wie in der guten alten Forscherzeit wirkt immerhin der Streit, der jetzt zwischen jüngeren und jüngsten Entdeckern ausbricht: "Alles nur eine Frage der Interpretation", mosert etwa Pasquale Scatturo, vor einigen Jahren selber ein bestsellerisch gefeierter Nil-Reisender, im Fachblatt "National Geographic". Es gehe eigentlich nur um einen Unterschied von einigen wenigen Meilen. Neidisch? Robert Collins, Autor des Buches "Der Nil", kommt mit seinem Kommentar der Wahrheit und dem Geist der Zeit wohl noch viel näher: "Diese drei Burschen sind ganz einfach nur auf Abenteuer aus", sagt er, "und dafür bin auch ich Feuer und Flamme!"