Der Prozeß gegen Susanna Margaretha Brandt (25) ist eines der aufregendsten Ereignisse im Frankfurt des Jahres 1771: Das Dienstmädchen, vom Lakai eines holländischen Kaufmanns verführt, verbirgt seine Schwangerschaft, tötet das Kind und wird mit dem Beil hingerichtet. Prominenter Zeuge des Prozesses ist der junge Jurist Johann Wolfgang Goethe (22). Das Schicksal der jungen Frau berührt den Dichter so tief, daß er sie in seinem "Faust" als "Gretchen" unsterblich macht.

Der grausame Konflikt zwischen Mutterliebe, Angst, Scham und Verzweiflung bewegt die Menschen seit mythischer Urzeit: In der griechischen Sage stürzt sich die schöne Ino, von der eifersüchtigen Göttin Hera mit Wahnsinn geschlagen, in Panik mit ihrem Sohn ins Wasser. Medea, die Zauberin vom Schwarzen Meer, schickt ihre beiden kleinen Söhne als ahnungslose Attentäter in das Haus der Rivalin und mordet danach die Kleinen mit eigener Hand. Die rachsüchtige Prokne setzt ihrem Ehemann Tereus, der ihrer Schwester Philomele Unschuld und Zunge genommen hat, den eigenen Sohn zum Mahl vor.

Das Jahr 1000 sieht tausendfachen Kindermord, denn die Christenheit erwartet den Weltuntergang, und zahllose vor Angst irrsinnig gewordene Frauen erschlagen ihre Kinder, um ihnen die Schrecken des Jüngsten Gerichts zu ersparen. Erst in aufgeklärten Zeiten wird die schiere Not ein anerkanntes Kindermordmotiv: Wie Fausts "Gretchen" (1775) ist auch Heinrich Leopold Wagners "Evchen" (1776) eher Opfer als Täterin. Auch Gottfried August Bürger, Friedrich Schiller, Jakob Michael Reinhold Lenz und zuletzt Hanns Henny Jahnn schildern unschuldig Schuldige als Märtyrer einer bigotten Moral.