Alzheimer: Erst konnte Harry Rösener aus Barmbek nicht mehr rechnen. Jetzt erkennt er oft nicht einmal seine Inge. Eine Geschichte von Abschied - und einer Liebe, die auch in schlechten Tagen trägt.

Hamburg. Sie weiß nicht, was er sieht, wenn er sie anblickt. Sieht er sie, Inge? Oder sieht er sie als Bild mit Ton? Sie weiß auch nicht, wann was hinzugekommen ist. Wann genau er das Autofahren verlernte oder das Kartoffelschälen, später. Und sie weiß auch nicht, wann der Tag kommt, an dem Harry sie niemals mehr erkennen kann. Und Inge wieder eine von vielen sein wird.

Manchmal erkennt er sie schon jetzt nicht mehr. "Dann sagt er zu mir: ,Bringen Sie mich sofort zu meiner Frau.'" Er greift zu den Schuhen, manchmal zieht er den rechten über den linken Fuß, und bewegt sich in Richtung Tür. "Er will dann nach Hause", sagt Inge.

Harald Rösener (77) ist zu Hause. Er ist in seinem Wohnzimmer, in seiner Drei-Zimmer-Wohnung in Barmbek, und es ist seine Frau, die neben ihm steht. Inge. Und die erklärt es ihm dann immer und immer wieder: daß sie verheiratet sind, seit 48 Jahren, daß sie in zwei Jahren goldene Hochzeit feiern. Und daß sie Harry und Inge sind. Das Traumpaar.

Harald Rösener vergißt das oft. Häufig vergißt er es mehrmals am Tag. Er leidet an Alzheimer. Und seine Frau irgendwie mit ihm. 80 Prozent der Erkrankten, derer, bei denen die Nervenzellen im Kopf nach und nach zerstört werden und sie deshalb vergessen, leben zu Hause. Bei ihren Angehörigen. Die übrigen sind stationär untergebracht. Ingeborg Rösener (76) sagt: "Das Vergessen ist das Wenigste." Sie sitzt da voll mit im Boot. Dabei ist sie gesund.

Daß Ingeborg Rösener mit ihm leidet, sagt sie nicht. Statt dessen spricht sie vom Schicksal und davon, daß sie es trage. Und von der Liebe. "Er ist nicht so krank, daß ich darunter leide", sagt sie. Auch dann nicht, wenn erst er sie nicht mehr erkennt und anschließend sie ihren Mann nicht mehr. Wenn er aggressiv wird, sie packt, an den Schultern schüttelt und wieder fleht: "Ich will zu meiner Frau!" Oder wenn er sie nachts um den Schlaf bringt. Wenn er die Toilette nicht findet und plötzlich durch den Stadtteil spazieren möchte im Dunkeln. Inge Rösener sagt ihrem Mann also, daß sie das gerade getan hätten. Aber weil er sich nicht erinnert, wird er sauer und beschimpft sie. Sie spinne ja.

Das passiert halt. Sie weiß, daß sie es nicht persönlich nehmen darf. In anderen Fällen zerbrechen daran Versprechen - und dann Ehen.

Die Krankheit nimmt sich jede Woche ein Stück mehr. Sie nimmt nicht nur ihm ein Stück mehr. Sie nimmt auch ihr ein Stück. Ihres Mannes. Das geht langsam. Der Abschied ist lang. "Das ist etwas anderes, ob jemand beim Autounfall umkommt oder plötzlich stirbt", sagt sie. Das hier läuft in Zeitlupe. Sie kann dabei zusehen und muß dabei dazulernen. Seine exakten Gewohnheiten etwa. Etwas Milch in den Kaffee. "Möchtest du noch eine Tasse?" fragt sie. Es steht Rhabarberkuchen auf dem Tisch und frisch geschlagene Sahne. Er antwortet kurz mit: "Ja." Also schenkt sie ihm ein, hält ihm die Tasse hin, und er fragt: "Und für wen ist die jetzt?"

Inge Rösener hat einiges dazugelernt in den vergangenen fünf Jahren. Seit es angefangen hat. Vor allem das Freundlichsein. Ihr Mann konnte plötzlich nicht mehr rechnen und digitale Zahlen in der Fernsehzeitschrift wie "15" und "30" - von 15.30 - zur Uhrzeit halb vier zusammenkriegen. Also sind sie zum Arzt, ins UKE zur Gedächtnissprechstunde. Die haben gesagt: "Es ist Alzheimer."

Harald Rösener war also fortan auch statistisch einer der eine Million Menschen in Deutschland und einer von 20 000 in Hamburg, die etwas gemeinsam teilen, das Vergessen. Und Inge Rösener ist die Angehörige, die sich kümmert. Die, die eigentlich glaubte, noch ein paar Jahre zu verreisen, gern nach Südtirol. Statt Reiseführer hat sie Fachliteratur zur Krankheit besorgt. Sie wußte ja nichts. Sie hatten ein normales Leben geführt. Sie als Bankangestellte und er als Ingenieur, der mit 60 noch beruflich in Peru war. Sie haben eine Tochter, Karin (40), zwei Enkelkinder, und sie hatten viele Freunde. Harald Rösener hatte sie aus dem Ruderverein, Inge vom Turnen und aus der Skatrunde. Ab und zu spielten sie alle gemeinsam. Mit dem Herrn Ingenieur.

Der war er mal. Groß gewachsen, lächelnd, charmant. Sportler. "Ich habe mein Leben lang immer das getan, was mein Mann wollte", sagt Inge Rösener. Nur einmal hat sie eine Ausnahme gemacht. Als die Tochter Führerschein machen wollte und der Vater ihr den nicht bezahlen wollte. Da hat seine Frau mal ihr Veto eingelegt. Sonst nie, niemals. Und anstatt zu fragen: Warum eigentlich? sagt sie: "Wenn mein Mann noch sagen könnte, was er will, würde ich das noch immer tun." Wenn er früh schlafen geht, sieht sie heute einen Krimi oder Rosamunde Pilcher. Das ging früher nicht. Da liefen Politik-Debatten.

Sie liebt ihren Mann. Daran hindert sie die Krankheit auch nicht. Nicht daß sie fast alle ihre Freunde verloren haben, weil er immer sagte: "Wann gehen die endlich?" Nicht weil sie fast an ihn gekettet ist wie durch ein unsichtbares Seil. Sie kann ihn nicht alleine lassen. Sie sagt, es sei wie mit einem Baby. Dann weiß Harald nicht mehr, wo er ist. Er schreit und ruft: "Wo bist du?" "Ich sage dann: in der Küche." Er weiß aber nicht, wo die Küche ist. Er würde rausgehen, sie suchen.

Seit Juni hat Inge Rösener wieder einen Tag für sich. Seitdem geht Harald in die Tagespflege ins "Haus am Kanal". Von zehn bis 16 Uhr ist das immer. Seine Frau hat dann mal Zeit. Zeit, ins Einkaufszentrum an der Hamburger Straße zu gehen, sich die Haare machen zu lassen. Oder sie trifft sich mit ihrer Freundin zum Mittagessen. Spätestens um 15.30 Uhr ist sie zurück und stellt sich hinter die Gardine im Wohnzimmer neben der kleinen gelben Gießkanne aus Plastik. Sie sieht über den Hof auf die Straße, ob das Auto angefahren kommt, das ihren Mann nach Hause bringt. Und manchmal, da gehen sie gemeinsam in die Heiliggeistkirche in der Nachbarschaft. Die Alzheimer Gesellschaft Hamburg e. V. hat den Raum gemietet. Da treffen sich Erkrankte und Angehörige. Da guckt keiner komisch. Da können sie reden oder auch mal tanzen. Die Gesellschaft arbeitet in erster Linie für die Angehörigen.

Inge Rösener sagt, daß ihr das gefalle. Und daß sie sich, seit Harald in die Tagespflege geht und sie zusammen die Veranstaltungen der Gesellschaft besuchen, nicht mehr so "angebunden" fühlt. Sie spricht davon, mal freizuhaben für diese paar Stunden.

Die restliche Zeit tut sie dann doch irgendwie nur das, was ihr Mann möchte. Wie früher. Er sagt es nur nicht mehr. Aber sie weiß es ja. Sie weiß, was ihm guttut und was ihn verwirrt. Sie läßt das Telefonieren, weil er nicht hört, mit wem sie spricht. Läuft der Fernseher, denkt er, die Nachrichtenmoderatorin sitze mit ihnen im Zimmer. Und wenn sie eine CD hören, was Klassisches, sagt er: "Daß ich immer in die Konzertsäle soll. Dazu fehlt mir die Lust."

Im Krankenhaus, kurz nach Weihnachten, hat er verrückt gespielt. Er habe dort "einen Zirkus veranstaltet". Die Umgebung war eine andere und seine Frau nicht dabei. Sie mußte ihn abholen. Seitdem fährt er kein Fahrrad mehr. Zu Fuß kommen sie noch bis zum Minimal und mit dem Zug noch bis Bevensen in der Heide. Ihre Wege werden immer kürzer.

Das Tempo, dieses Fortschreiten der Zerstörung, läßt sich verringern, wenn er glücklich ist. Wenn er ihre Stimme hört und sie berührt. Meistens sitzen sie am Abend noch auf der Eckbank, sie am langen Ende, er am kurzen. Nach ein paar Minuten kommt er dann zu ihr rübergerückt. Die Röseners sitzen dann da und halten Händchen in ihrer Zelle, irgendwo in der Großstadt. Es sind Momente, in denen er sie sieht, kurz. Sie sind die Alten, für Sekunden, vielleicht die letzten. Sie sind Harry und Inge. Das Traumpaar.