Moskau. In Russland kann man als Homosexueller für einen Kuss verhaftet werden. Wird sich durch die Weltmeisterschaft irgendetwas ändern?

Alexander Agapov hat keine Stimme mehr. Der 35-Jährige sitzt auf einer Treppe am Rande des Roten Platzes in Moskau und versucht trotz extremer Heiserkeit gegen den Lärm der Fanmassen anzukommen. Russland hat am Vorabend gespielt und hat den Schalter längst auf Dauerparty umgestellt. „Ich bin ein wenig frustriert“, krächzt aber Agapov. Erst wenige Stunden zuvor ist er von einer Podiumsdiskussion in Nischni Nowgorod zurückgekehrt.

Der britische Botschafter sei da gewesen, auch der Chef des englischen Fußballverbandes FA. „Alles sehr nette Leute“, sagt Agapov leise. „Aber am Ende haben dann doch wieder alle Leute Angst. Man möchte einfach keine Probleme haben.“ Dabei gibt es nur ein Problem: Alexander Agapov ist schwul. In Russland.

Bereits vor der WM hatte das deutsche Auswärtige Amt auf seiner Internetseite darauf hingewiesen, dass Homosexualität in Russland zwar nicht strafbar, aber die Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft extrem gering sei: „Übergriffe auf gleichgeschlechtliche Paare zum Beispiel bei öffentlichen Bekundungen von Zuneigung sind keine Seltenheit.“

WM-Reiseführer informiert über „Dos und Don’ts“ für Schwule und Lesben

Das internationale „fare“-Netzwerk gegen Diskriminierung im Fußball hat sogar einen „WM-Reiseführer der Vielfalt für Russland“ herausgegeben, in dem „Dos und Don’ts“ für Schwule, Lesben und ethnische Minderheiten veröffentlicht wurden. Ein Beispiel: „Sie können nicht an Protestaktionen teilnehmen, um die Rechte der LGBT-Gemeinde zu verteidigen – auch nicht, indem Sie alleine mit einer Regenbogen-Fahne auf einem Platz stehen.“

Agapov weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll. Der junge Russe ist Präsident des nationalen LGBT-Sportverbands. LGBT ist eine aus dem Englischen kommende Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender. „Ich bin mir absolut sicher, dass sich Schwule während der WM mehr oder weniger frei in Russland bewegen können“, sagt er.

„Das ist auch gar nicht das Problem. Das Problem ist, dass diese WM nach einem Monat wieder vorbei ist und alle Fans und westlichen Journalisten dann wieder in ihrer Heimat sind. Und wenn es dann um die Sicherheit von Schwulen geht, sagen die russischen Politiker: Welche Schwulen? In Russland gibt es keine Schwuchteln!“

Agapow hielt während eines WM-Spiels die Regenbogenfahne hoch

Die Behauptung ist keinesfalls aus der Luft gegriffen. Vor der WM hat Ramsan Kadyrow, der despotische Alleinherrscher der Teilrepublik Tschetschenien, auf Nachfrage erklärt: „Wir haben keine Schwulen. Und wenn es sie gibt, nehmt sie mit nach Kanada, weit weg von uns, damit unser Blut gesäubert wird.“

Die ägyptische Nationalmannschaft hat derlei Aussagen aber nicht davon abgehalten, das WM-Quartier in Grosny zu beziehen und bei der Ankunft Selfies von Superstar Mohamed Salah mit dem selbst ernannten Schwulenhasser Kadyrow zu posten.

„Es ist doch eine Legende, dass man die Situation im Gastgeberland durch große Events wie die WM nachhaltig verändert“, sagt Agapov. Schon vor mehr als einem Jahr hatte er zu Fifa-Hauptsponsoren Kontakt aufgenommen. „Unterstützen wollte uns aber keiner.“ Beim Eröffnungsspiel zwischen Russland und Saudi-Arabien im Luschniki-Stadion war er sogar auf der VIP-Tribüne und hielt die Regenbogen-Fahne hoch. „Ich wollte zeigen, dass während der WM fast alles erlaubt ist. Nach der WM wäre es unmöglich, bei einem Fußballspiel mit der Regenbogen-Fahne zu wedeln.“

Natürlich hat auch Nikolai Roma­noff die Aktion mitbekommen. Gut fand er sie nicht. „Ich verstehe nicht, warum man der ganzen Welt zeigen muss, dass man schwul ist“, sagt der 25-Jährige, der von Freunden Nick genannt wird.

Eltern wissen nichts von der Homosexualität ihres Sohnes

Nick sitzt im Café Propaganda, einem inoffiziellen Schwulentreff, und spielt mit seinem Handy. Auf der Großbildleinwand läuft natürlich irgendein WM-Spiel – und in dem Café ist die Hölle los. Doch Nick schaut immer nur dann auf das Spiel, wenn der aufkommende Jubel eine Torchance ankündigt.

Mit dem Finger streicht er über sein Smartphone, auf dem die Dating-App Grindr geöffnet ist. Eine Schwulenversion von Tinder, mit der er innerhalb von Sekunden sehen kann, ob es in der Nähe auch andere Homosexuelle gibt, die sich verabreden wollen. „Hier waren noch nie so wenige Schwule und so viele Fußballfans“, sagt Nick, als er hochschaut.

Der Managerassistent in einer Marketingfirma ist genervt von Aktivisten wie Alexander Agapov, die seiner Meinung nach der „guten Sache“ nicht dienlich sind: „Ich bin schwul, ich lebe ein schwules Leben, aber ich muss damit nicht jedem auf die Nerven gehen.“

Der gebürtige Moskauer lebt mit seinem 19 Jahre alten Bruder im Viertel Izmaylovo im Osten der Stadt genau neben seinen Eltern. Ob seine Eltern und sein Bruder von seiner Homosexualität wissen? Nick schüttelt energisch mit dem Kopf. „Sie haben mich nie gefragt. Und selbst wenn sie es vermuten, würden sie sicherlich nicht fragen.“

Das Gefühl, etwas zu verbergen, hat Nikolai Romanoff trotzdem nicht. Seine Freunde kommen überwiegend aus der Schwulenszene. Abends geht er gerne ins Propaganda, das kurioserweise genau neben dem Hooters liegt, einer Bar mit ausschließlich großbusigen Bedienungen in engen T-Shirts. Und bei gutem Wetter sonnt er sich am inoffiziellen Schwulenstrand Serebryany Bor.

„Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass ich in Moskau ein anderes Leben führen kann als im Rest von Russland“, sagt Nick. Er habe es sogar einmal gewagt, einen Freund in der Metro öffentlich zu küssen. „Und ich bin nicht verhaftet worden.“

Theoretisch wäre das allerdings möglich gewesen. Grund ist das sogenannte „Propaganda-Gesetz“, das Präsident Wladimir Putin 2013 erlassen hat. Es stellt unter Strafe, sich in Anwesenheit von Minderjährigen positiv über Homosexualität zu äußern. Demnach sind auch das Küssen in der Öffentlichkeit und das Händchenhalten verboten, sofern Minderjährige anwesend sind.

„Es ist ein dummes Gesetz“, sagt Dmitry Afanasyev. „Einerseits glaube ich kaum, dass wirklich viele Schwule wegen des Gesetzes verhaftet wurden. Andererseits ist das Gesetz ein klares Statement: Schwule sind anders. Und Schwule sind gefährlich.“

Dmitry ist ein Bekannter von Nick. Sie haben den gleichen Freundeskreis, gehen in die gleichen Clubs und auf die gleichen Partys. Und sie haben auch mehr oder weniger die gleiche Meinung. „Ich persönlich fühle mich nicht wirklich eingeschränkt“, sagt Dmitry. „Aber mir ist auch bewusst, dass Schwule in Westeuropa mehr Rechte haben.“

Eine Schwulenbar ohne Namens- oder Hinweisschild

Der Social-Media-Experte, der für einen TV-Sender die eigenen Twitter-, Facebook- und Instagramkanäle pflegt, wohnt seit vielen Jahren in Moskau, kommt aber eigentlich aus der Kleinstadt Belgorod. „Dort weiß natürlich niemand, dass ich schwul bin. Auch nicht meine Eltern. So weit ist man in Russland einfach noch nicht.“

Dmitry bestellt einen zweiten Cappuccino und fragt, ob er ein oder zwei Schwulenclubs in der Gegend zeigen solle. Den Monoclub zum Beispiel. Eine Schwulenbar ohne Namens- oder Hinweisschild am Eingang am Pokrovsky Boulevard. „Wer den Laden nicht kennt, der muss ziemlich lange suchen.“

Um diese Uhrzeit ist der Monoclub aber geschlossen. „In Moskau können Homosexuelle vieles machen, was Homosexuelle in anderen westeuropäischen Metropolen auch machen können“, sagt Dmitry. Es gibt Bars, Cafés und Gaysaunas. „Nur in der Öffentlichkeit ist das Thema Homosexualität noch ein Tabu.“

Und genau dieser Satz ist es, der Alexander Agapov so ärgert. „Warum muss Homosexualität öffentlich ein Tabu sein?“, fragt er.

Die Sonne geht hinter den Türmen der Basilius-Kathedrale in allen Schattierungen von Rot, Blau und Lila unter. Alexander Agapov macht einen Schnappschuss mit seinem Handy, ist aber sofort wieder bei der Sache. „Die Botschaft, die von russischen Medien ständig verbreitet wird, ist, dass Schwulsein unnormal ist. Das sind wir aber nicht. Wir sind ganz normal“, sagt Agapov. „Nicht mehr und nicht weniger.“

2017 demonstrierten Hunderte Menschen in Berlin gegen die Politik von Präsident Wladimir Putin unter dem Motto: „Stoppt die Homophobie in Russland“
2017 demonstrierten Hunderte Menschen in Berlin gegen die Politik von Präsident Wladimir Putin unter dem Motto: „Stoppt die Homophobie in Russland“ © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Jan Scheunert

Im Diversity House, einer Begegnungsstätte und gleichzeitig einem Zufluchtsort für Minderheiten, war der Präsident des nationalen LGBT-Sportverbands bereits zwei Veranstaltungen während der WM zu Gast. „Und bei beiden Veranstaltungen hat es Drohbriefe gegeben“, sagt Agapov. „Da kann man doch nicht davon sprechen, dass Schwule in Moskau genau das Gleiche machen können wie Schwule in anderen westeuropäischen Städten.“

Seit den Drohungen sichern FSB-Agenten des russischen Geheimdienstes die Veranstaltungen. „Sie machen Filmaufnahmen und sagen, dass sie zu unserem Schutz da sind. Aber wer garantiert mir, dass diese Aufnahmen nicht irgendwann im Fernsehen gezeigt werden, mit dramatischer Musik unterlegt?“, fragt Agapov. „Gerade im Fernsehen wird über Schwule ungehemmt gehetzt.“

Als Moderator Anton Kravovski sich outete, verlor er seinen Job

Das musste auch Anton Kravovski erfahren, der wahrscheinlich bekannteste Homosexuelle Russlands. Zur besten Sendezeit hatte der TV-Moderator in der Abmoderation seiner Sendung 2013 die drei wichtigsten Wörter seines Lebens in die Kamera gesagt: „Ich bin schwul.“

Die Reaktionen waren heftig. Noch in der Nacht verlor Kravovski seinen Job, alle Aufzeichnungen seiner Show verschwanden umgehend aus der Mediathek. Als Kravovski sich nun bei der Bürgermeisterschaftswahl in Moskau zur Wahl stellen wollte, wurde seine Kandidatur nicht zugelassen.

Alexander Agapov schüttelt mit dem Kopf. Neben ihm tanzt und grölt eine Fangruppe von Russen, Engländern und Brasilianern. „Hauptsache, der Ball rollt“, sagt Agapov. Er ist nun noch heiserer als vorher. „Egal“, sagt er frustriert. „Gehört werde ich ja sowieso nicht.“

Putins Gesetz

2013 nterzeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin ein „Gesetz gegen Homosexuellen-Propaganda“, das positive Äußerungen über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen oder über Medien wie das Internet unter Strafe stellt. Bei Zuwiderhandlungen drohen (auch Ausländern, die in Russland demonstrieren) hohe Geldbußen.

Die Begründung: Man wolle Kinder und Heranwachsende schützen. Minderjährige seien nicht in der Lage, objektiv und kritisch mit Informationen umzugehen, „die schädlich für ihre Psyche sein können und ihnen eine verzerrte Vorstellung zwischenmenschlicher Beziehungen vermitteln“. In zweiter Lesung wurde der Begriff „Homosexualität“ gegen die Wendung „nicht traditionelle sexuelle Beziehungen“ ersetzt.