Am 28. August 1963 hielt Martin Luther King eine Rede, die den Anfang vom Ende der Rassentrennung in den USA markierte. Doch von gleichen Lebensverhältnissen ist die schwarze Bevölkerung immer noch weit entfernt.

Es herrschte Ausnahmezustand in der US-Hauptstadt an jenem Mittwoch, dem 28. August 1963, Ausnahmezustand in Erwartung einer Belagerung. In den Krankenhäusern hatte man Notärzte dienstverpflichtet, Routineoperationen waren abgesagt. Polizisten schoben 18-Stunden-Schichten. Zehntausende Schwarze marschierten auf Washington. Nachdem Präsident Kennedy sich gegen ein Demonstrationsverbot entschieden hatte, musste die Stadt mit Blutvergießen und Plünderungen rechnen. Dann kam alles anders. Eine Viertelmillion Menschen verbrüderte sich friedlich. Schwarze mit Hut und im feinsten Sonntagsstaat feierten den Traum eines Pastors, der gekommen war, den „Scheck“ der Gründerväter Amerikas auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit auch für „Neger“ einzulösen, wie er es damals selbst formulierte.

Sie kamen aus dem tiefsten Süden, wo ein Schwarzer gelyncht werden konnte, wenn er mit einer Weißen nur flirtete. Oder es wagte, sich als Wähler registrieren zu lassen. Sie kamen aus dem Norden und Westen, wo die Rassentrennung subtiler war – sie führte in Slums, nicht zum Lynchmord. Im Kongress saßen fünf schwarze Abgeordnete. Noch 1965 waren in Mississippi nur sieben Prozent der wahlberechtigten Schwarzen als Wähler registriert, 19 Prozent in Alabama, 32 Prozent in Louisiana. Mehr als die Hälfte der Schwarzen Amerikas lebte in Armut, keine fünf Prozent hatten einen College-Abschluss. So war das Land, durch das Martin Luther King auf Washington marschierte. Als er auf den Stufen des Lincoln Memorial den ungedeckten Scheck einzulösen verlangte, demaskierte er die Rassentrennung nicht nur als Unrecht. Er entlarvte Rassisten als unamerikanisch.

Wenn am heutigen Mittwoch, dem 28. August, 50 Jahre nach Kings „I Have a Dream“-Rede („Ich habe einen Traum“), die in ihrem berühmtesten letzten Drittel eine Art Predigt war, Barack Obama an derselben Stelle stehen wird, könnte die Nation glauben, der Traum habe sich erfüllt. Der Sohn eines schwarzen Afrikaners, Absolvent der besten US-Hochschulen, gewählt von einem Volk, in dem die Schwarzen am zuverlässigsten von allen ethnischen Gruppen zur Wahl gingen, ist Symbol für die überwundene Ursünde Amerikas. Ist das so? Die Fortschritte sind unleugbar. Im Kongress ist jeder zehnte Abgeordnete schwarz, sie kommen aus 25 Staaten und Territorien. Gesetze, die noch 1963 Ehen zwischen den Rassen verboten, sind düstere Geschichte. Bundesbehörden wachen über Gesetze, die garantieren, dass kein Arbeitgeber, keine Universität, keine lokaler Sheriff Schwarze schikanieren darf. Washington, Denver, Philadelphia werden von schwarzen Bürgermeistern geführt.

Auf den ersten Blick scheint Kings Traum wahr geworden zu sein

Großunternehmen wie Xerox und American Express haben schwarze Bosse. 2010 besuchten 38 Prozent der Schwarzen zwischen 18 und 24 Jahren ein College. Die höchstbezahlten Stars in Sport und Popmusik sind schwarz. Und die meisten Schwarzen leben nicht in Armut. Zwei US-Außenminister im vergangenen Jahrzehnt hatten dunkle Haut. Lebte Martin Luther King noch, er müsste seinen Bruder Barack umarmen und stolz und glücklich sein. Der Traum, dass seine vier Kinder nach ihrem Charakter beurteilt werden, nicht nach ihrer Hautfarbe, Kings Traum, der in Wahrheit der Amerikanische Traum ist, scheint wahr geworden zu sein.

Die Wirklichkeit ist nicht so glorreich. Barack Obama wird heute nicht anders können, als das zuzugeben. Viel sei erreicht worden, wird er sagen, noch mehr bleibe zu tun. Colin Powell, US-Außenminister von 2001 bis 2005, spricht für viele prominente Schwarze: „Wir haben große Fortschritte erlebt. Aber wir sind nicht, wo wir sein müssten. Bildung, Jobs, Gesundheit, anständige Wohnungen für alle Amerikaner müssen unser Ziel bleiben.“ Powell kämpfte im August 1963 in Vietnam, in seiner Heimat wurde seine Familie im Süden von Rassisten bekämpft. „In diesem hässlichen Sommer musste mein Schwiegervater in Birmingham (Alabama) meine Frau Alma und unseren kleinen Sohn regelrecht bewachen.“ Das ist vorbei, für immer. Acht von zehn Amerikanern stimmen Powell zu, dass sehr viel zu tun ist, bevor von Gerechtigkeit die Rede sein kann.

Die Regierung und der Kongress haben seit Verabschiedung der Bürgerrechts-Gesetze alles getan, um Diskriminierung auszumerzen. So viel wurde geregelt, verboten, gefördert, dass sich unter Amerikas Konservativen Überdruss und eine Gegenbewegung gebildet hat. Das konservativ dominierte Oberste Bundesgericht entschied jüngst, den „Voting Rights Act“ von 1965 abzuschwächen. Das heißt nicht, Gebühren und Schreibtests wieder zuzulassen, die 1963 Schwarze vom Wählen abschreckten. Doch es bedeutet, neue Hürden zu errichten. Genug des Schutzes, heißt es: Den Schwarzen, die sich nicht selbst helfen, sei eben nicht zu helfen. Der Gerichtshof folgte dem Vorbild mehrerer republikanisch geführter Bundesstaaten, die nach den Wahlsiegen Obamas 2008 und 2012 seine treueste Klientel, nämlich Schwarze, Studenten, Ungebildete und Arme, durch Auflagen zu entmutigen versuchen.

Im Jahr 1963 wurde ein Viertel der schwarzen Kinder unehelich geboren, heute sind es 72 Prozent. Nur 29 Prozent sind verheiratet, gegenüber 60 Prozent in den 60er-Jahren. Jeder zehnte Schwarze zwischen 30 und 34 Jahren sitzt im Gefängnis, bei Weißen ist es einer von 61. Weder vor Gefängniswärtern noch vor Staatsanwälten, Richtern und Polizisten sind alle Amerikaner gleich. Schwarze Jugendliche, die mit Marihuana erwischt werden, landen viermal so häufig im Gefängnis wie weiße Kids mit denselben Vergehen. Die Angst vor dem anderen ist nicht mehr in den Gesetzen – in den Herzen aber wirkt sie nach wie vor.

Polizei-Schikanen beklagt jeder dritte Schwarze, aber nur jeder zehnte Weiße

Bei Umfragen geben 35 Prozent der Schwarzen an, im vergangene Jahr Schikanierung durch Politzisten erlebt zu haben, während nur zehn Prozent der Weißen darüber klagen. Die Schwarzen verlieren den Glauben an Barack Obama. Nur noch einer von vier Schwarzen glaubt, dass seine Situation besser ist als vor fünf Jahren. Noch 2009 waren es 40 Prozent.

Nichts wirkt so verheerend wie die Ungleichheit der Einkommen und erst recht der Vermögen. Für Jobs im Niedriglohnsektor erhalten Schwarze 60 Cents wo die Weißen einen Dollar bekommen; auch bei den Jahresverdiensten liegen die Weißen durchschnittlich um 9000 Dollar vor den Schwarzen. Noch dramatischer ist der Abstand beim Haushaltsvermögen, das Häuser, Anlagen, Autos berechnet: 110.500 Dollar für weiße Familien, 6314 für schwarze.

Martin Luther King war ein Gegner des Krieges in Vietnam. In seinem letzten Buch, „Where Do We Go From Here?“ notierte King: „Die Bomben von Vietnam explodieren zu Hause; sie zerstören die Hoffnungen und Möglichkeiten für ein anständiges Amerika.“ Als King im April 1968 ermordet wurde, war er nach Memphis gereist, um einen Streik der Müllmänner zu unterstützen. Das Los der Armen lag ihm am Herzen, nachdem die Gleichstellung der Schwarzen wenigstens auf dem Papier der Gesetzbücher erreicht war.

Am 28. August 1963 kamen in Washington nur wenige Anwälte und Beamte zur Arbeit. So viele Schwarze sollten in die Stadt strömen – wer wusste schon, wie das enden würde? Die amerikanischen TV-Sender übertrugen live, es gab sogar eine Satellitenschaltung nach Europa. Alles wartete auf die Rebellion. Sie hörten den gewaltlosen Traum eines Propheten. Man weiß nicht, ob er irrte.