Raus aus den Ateliers, rein in die Natur: Vor 120 Jahren erlebten Künstlerkolonien einen Boom. Ein Besuch im Worpswede von Mecklenburg.

Bei Bad Doberan hat die Eiszeit ganze Arbeit geleistet. Die Hügel, die sie geformt hat, sind höher als etwa am Schaalsee, der Boden ist ein Patchwork aus Sumpf, Sand und Lehm, neben Kiefernwäldchen erheben sich kapitale Buchen. Ein letzter großer Wall noch, links Lidl, rechts Netto, dann senkt sich die Landstraße zur Warnowniederung, und geradeaus leuchtet eine kompakte Backsteinkirche über die Dächer: St. Paulus in Schwaan.

So erlebten es Anreisende vor 100 Jahren schon, bis auf Lidl und Netto natürlich. Die Kirche findet sich auf Hunderten von alten Zeichnungen, Radierungen und Gemälden: in der Ferne über Giebeln, im Hintergrund von Fluss und Baumgruppen, wie ein Leuchtturm über einem Meer von Weizen. Wahrscheinlich gehört St. Paulus zu den meistgemalten Kirchen Norddeutschlands, und das hat seinen Grund: Von 1892 bis in die 1930er-Jahre war Schwaan ein Anziehungspunkt für ganze Scharen von malenden Männern und Frauen.

Warum um Himmels willen gerade dieses beschauliche Landstädtchen, wo doch in Mecklenburg angeblich alles 100 Jahre später passiert? Zur selben Zeit, um die Wende zum 20. Jahrhundert, fühlten sich andere Künstler von den spektakuläreren Naturschauspielen der Alpen, der Nordsee oder der malerischen Ostseeküste angezogen. Manche auch vom flachen Teufelsmoor bei Worpswede. Was reizte sie?

"... die schimmernde Warnow, das flüsternde Schilf, die Fischerboote, die grauen Weiden, alles, was ich täglich vor Augen hatte ... ließ mir keine Ruhe, und ich musste wieder zwischendurch landschaftern", schrieb Franz Bunke über seine Ausbildungszeit in den 1870er-Jahren. Bei einem Porträtmaler in Rostock lernte er traditionsgemäß "tote" Gegenstände zu zeichnen, auf der Berliner Kunst-Akademie "steckte man mich wieder hinein in den grauen Zeichensaal mit seinen langweiligen starren Totenmasken". Davon hatte er genug. Bunke wurde 1857 als Sohn eines Mühlenbauers in Schwaan geboren. Die Bilder seiner Heimat gingen ihm nie aus dem Kopf. Von Berlin wechselte er zur Weimarer Kunstschule, der Hochburg der Landschaftsmalerei. Als er dort 1910 selbst zum Professor berufen wurde, hatte er schon über 18 Jahre lang einen beachtlichen Mal-Tourismus in seinem Heimatort begründet: In jedem Frühjahr, um Pfingsten herum, zog er mit seinen Studenten nach Schwaan zum Freiluftunterricht. Und mit seinen Studentinnen. "Weimar war die einzige staatliche Malschule, die auch Frauen zum Studium zuließ", erzählt Heiko Brunner.

Der Leiter des Kunstmuseums Schwaan kennt sich aus in der Geschichte von Künstlerkolonien. Während viele Künstler damals aus den industrialisierten, dreckigen Städten aufs Land flohen und ihre Freunde nachzogen, verlief es hier umgekehrt: Die wichtigsten Maler neben Bunke, Peter Paul Draewing und Rudolf Bartels, waren ebenfalls gebürtige Schwaaner. Sie wurden von ihrem Landsmann Bunke "entdeckt", gingen zum Studium nach Weimar und kehrten dann zurück.

Für diesen Aufbruch, selbst in der Provinz, sorgte der Zeitgeist. "Viele junge Maler empfanden einen Widerstand gegen das Althergebrachte. Man hatte die Nase voll davon, nur in Ateliers zu arbeiten", sagt Heiko Brunner. Der Anstoß kam aus Frankreich: 1830 hatten sich französische Maler in dem Dorf Barbizon südlich von Paris niedergelassen und arbeiteten "aux plein air", unter freiem Himmel.

Die Natur im Einfluss der Jahreszeiten zu erleben, sie bei verschiedenen Tageszeiten, Wetter- und Lichtbedingungen zu beobachten, eröffnete den Malern buchstäblich neue Horizonte. Dank einer neuen Erfindung konnten sie mit Material und Staffelei mobil sein: 1841 hatte sich der amerikanische Maler John Joffe Rand die Farbtube in den USA patentieren lassen. "Die Farbtuben haben es uns ermöglicht, in freier Natur zu malen", lobte Auguste Renoir. "Ohne sie hätte es weder einen Cézanne noch einen Manet gegeben, auch nicht den Impressionismus."

Das war das Stichwort von Barbizon: Es ging Stimmungen, um Impressionen statt reiner Abbildung, um den Gegenstand der Malerei. "Der Mensch war nicht mehr Mittelpunkt wie bisher. Die Landschaft sollte für sich sprechen", sagt Heiko Brunner. Im Kunstmuseum Schwaan, einer historischen, sanierten Wassermühle an der Hauptstraße des Orts, hängen heute die Belege dieser Mal-Revolution, über rund 40 Jahre in und um Schwaan entstanden.

Franz Bunke, der joviale, gesellige Mecklenburger, der mit jedem Platt schnackte, entwickelte sich zu einem Meister der weiten Himmel, der stimmungsvollen Abend- und Nebelszenen an der Warnow. Für ihn war die Natur ein Erlebnis der Erhabenheit. Diese Ansicht teilte er mit Otto Modersohn (1865-1943), dem Mitbegründer der Künstlerkolonie Worpswede, und Paul Müller-Kaempff (1861-1941), dem Begründer der Künstlerkolonie Ahrenshoop an der Ostsee. Modersohn und Bunke sind sich vermutlich bei Ausstellungen begegnet.

Bunkes Schüler Rudolf Bartels gilt heute als bedeutendster Maler Mecklenburgs. Er begann als Erster, vom selben Motiv Serien zu malen, beispielsweise von Schwaaner Kindern, die in der Dämmerung mit Lampions herumzogen. Bartels stellte unter anderem in Dresden, Hamburg, Süddeutschland und der Schweiz aus. Peter Paul Draewing konnte aus Geldmangel nur ein Semester in Weimar studieren. Er verdiente etwas dazu, als er bei der Ausmalung des Hamburger Rathauses mithalf.

Auch ein Hamburger gesellte sich zu den Studienfreunden nach Schwaan. Alfred Heinsohn, Sohn eines Hamburger Schnapsfabrikanten, hatte nach einer Lehre als Dekorationsmaler in Düsseldorf, Karlsruhe und schließlich Weimar studiert. Dass er schon 1894 in Schwaan malte, beweist die Datierung seiner Zeichnungen, sagt Heiko Brunner. 1902 baute sich Heinsohn dort sogar ein Haus nach eigenen Entwürfen, in dem er mit seiner ebenfalls malenden Schwester Erna lebte und das heute noch existiert. Ein paar Schritte vor der Haustür fließt die Warnow, idyllisch in Schilf und Erlen eingefasst.

Über die Malerinnen der Künstlerkolonie ist nur wenig bekannt. Bilder und Skizzen der Malerinnen Ilse Jonas, Helene Dolberg und Elisabet Aster zeigen, dass sie in Schwaan mehrere Sommer verbracht haben müssen.

Bunke hat über seine Aufenthalte immerhin in Schriften und Briefen berichtet, von den anderen Künstlern sind Quellen rar, sagt Heiko Brunner. Trotzdem haben Förderer der Kunstmühle in mühevoller Kleinarbeit Informationen zusammengetragen. Die Schwaaner Künstler kamen nicht aus großbürgerlichen Familien wie ihre Kollegen in Worpswede. Bartels stammte aus einer Töpferfamilie, Draewings Vater arbeitete in einer Zigarrenfabrik. Wenn sie zum Malen nach Schwaan kamen, übersommerten sie in ihren Elternhäusern, typischen einstöckigen Ackerbürgerhäuschen, die Schwaan heute noch prägen. Gäste und Malschüler wurden in Dachkammern untergebracht.

Die Schwaaner gewöhnten sich allmählich "an das Künstlervölkchen, das jährlich gemeinsam mit dem Zug 4. Klasse aus Weimar eintraf", schreibt die Künstlerin und Schwaan-Expertin Lisa Jürß. Geselliger Mittelpunkt am Abend war das Hotel Drewes am Pferdemarkt. Ein altes Foto zeigt Bunke, Bartels, Draewing in der Gaststube, in fröhlicher Runde mit Freunden, ihren Studenten, dem Wirt und Einheimischen, der Dorf-Drogist sitzt am Pianoforte. Die Freiluftmaler machten gemeinsame Kahnpartien, Ausflüge in die Rostocker Heide oder nach Ahrenshoop.

Das Ende kam mit dem Ersten Weltkrieg. "Das war ein starker Einschnitt für die Kolonie", sagt Heiko Brunner. Bartels und Heinsohn wurden eingezogen, die Wege der Künstler trennten sich.

Tragischerweise starb nicht nur Heinsohn (1927), sondern auch Bartels (1943) kinderlos und unverheiratet. Die meisten ihrer Bilder waren irgendwo bei privaten Besitzern verstreut. Bunke überlebte Frau und Tochter und starb 1939 in Weimar. Lange war Bunke ein gefragter Landschaftsmaler gewesen, dessen Bilder sich auch wohlhabende Hamburger in den Salon hängten. Jetzt wurde sein Nachlass in einem Biergarten versteigert. Damit sank die Geschichte der Schwaaner Künstlerkolonie in Vergessenheit. "Zu DDR-Zeiten", sagt Heiko Brunner, "interessierte sich niemand dafür."

Das änderte sich erst, als Lisa Jürß 1992 im Schweriner Landesmuseum eine erste große Ausstellung der Schwaaner Künstler organisierte. Schwaan besann sich seiner farbigen Vergangenheit und eröffnete 2002 das Kunstmuseum, in dem man seither die Biografien der Künstler recherchiert und versucht, ihre Werke ausfindig zu machen. 1990 waren zwölf Bilder im Besitz der Stadt Schwaan, heute sind es 103; darunter auch sechs Bilder von Alfred Heinsohn, die ein Sammler auf einem Flohmarkt in Süddeutschland aufstöberte.

Draußen scheint eine milde Nachmittagssonne auf die Wiesen hinter der Kunstmühle. Auf einem markierten Spazierweg kann man erkunden, wo Bunke, Draewing, Heinsohn und andere mit Palette und Staffelei gesessen und die Motive in und um Schwaan gemalt haben.

An dem kleinen Warnow-Zufluss Beke zum Beispiel. Da schlafen sieben kleine Entchen im Ufergras. Im Schilf schaukelt ein graues Ruderboot. Die Erlen rauschen, und rechts leuchtet der rote Turm von St. Paulus über die Bäume. Sie hatten damals einfach ein Auge dafür, wo es schön ist.

Die Kunstmühle Schwaan zeigt bis 23. Oktober die Ausstellung "Worpswede in seiner ganzen Vielfalt", 60 Werke mehrerer Künstlergenerationen.

Kunstmühle Schwaan, Mühlenstr. 12, 18258 Schwaan; Di-Fr 10-17 Uhr, Sa 13-17 Uhr, So 11-17 Uhr (bis September). kunstmuseum-schwaan.de