43,7 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Es werden sogar immer mehr. Zum Beispiel aus Eritrea, einem der ärmsten Länder der Erde.

Er wollte nur noch weg. "Weg oder sterben", flüstert Yonas. Yonas ist nicht gestorben. Er ist weg. Weg aus Eritrea, weg aus einem der ärmsten und brutalsten Länder der Welt. Jetzt lebt er im Flüchtlingslager Mai-Aini im Norden Äthiopiens. Doch angekommen ist Yonas noch nicht. Er ist immer noch auf der Flucht. Yonas ist einer von Millionen Flüchtlingen weltweit. Nach Schätzungen des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen sind weltweit 43,7 Millionen Menschen auf der Flucht. Mit dem heutigen Weltflüchtlingstag will die Uno auf das Schicksal der Vergessenen aufmerksam machen.

Yonas liegt auf dem festgestampften Lehmboden, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Beine angezogen. "So haben sie mir im von den Italienern erbauten Foltergefängnis Arme und Beine zusammengebunden. Stundenlang. Sie nannten es "otto", Italienisch für "acht", weil der Körper eine Acht bildet", sagt Yonas mit kaum wahrnehmbarer Stimme. Narben an seinen Hand- und Fußgelenken zeugen noch heute von den Qualen. Immerhin hat der 36-Jährige noch beide Hände. Einem Mithäftling sind nach dem durch die bestialische Fesselung verursachten Blutstau beide Hände abgefault.

Yonas landete im Foltergefängnis, weil er nach 14 Jahren Wehrdienst desertierte und versuchte, in den Sudan zu fliehen. Nach einem Jahr und zwei Monaten Haft war er körperlich gebrochen - doch sein Wille, dem totalitären Regime von Präsident Isayas Afewerki mit seinem nie endenden Militärdienst zu entfliehen, war stark. Yonas rannte erneut davon, versteckte sich vier Monate im Haus seines Onkels in der eritreischen Hauptstadt Asmara, dann wagte er einen zweiten Fluchtversuch. Diesmal mit einem "Pilot" genannten Menschenschmuggler. 50 000 Nakfa, umgerechnet rund 2500 Euro, verlangte der Schlepper. Yonas' Freunde, denen die Flucht bereits gelungen war, schickten das Geld über informelle Kanäle aus Schweden, den USA und der Schweiz nach Asmara. Tagsüber versteckten Yonas und der "Pilot" sich in Höhlen, nachts liefen sie zwischen Landminen und eritreischen Grenzsoldaten, die ohne Warnung scharf schießen, hindurch, bis sie den Merebe-Fluss, die Grenze zu Äthiopien, erreichten. Dort gab Yonas dem "Piloten" seine Hälfte eines in der Mitte durchgerissenen Nakfa-Scheins. Die andere Hälfte, so wie die Prämie für den Schleuser, hatte Yonas' bester Freund in Eritrea behalten. Erst wenn der Schlepper ohne Yonas, aber mit der passenden zweiten Hälfte des Scheins zurückkehrte, sollte er die 50 000 Nakfa bekommen.

+++ Hilfe in Gefahr +++

Als der Schleuser den Rückweg antrat, watete Yonas durch den ausgetrockneten Grenzfluss, wurde von äthiopischen Soldaten aufgegriffen und ins Flüchtlingslager Mai-Aini im äthiopischen Hochland gebracht. Am 17. April jährte sich Yonas' Ankunft zum dritten Mal. Er hatte nicht vor, so lange zu bleiben. Sein Freund Ambesajer, der Jahre vor ihm desertiert war, hatte es über den Sudan, Libyen und per Boot nach Italien und schließlich in die Schweiz geschafft. Seine schweizerische Handynummer hat Yonas in einem seiner zwei Handys gespeichert. Neben einigen äthiopischen Nummern sind in dem Mobiltelefon fast nur Nummern mit Ländervorwahl gespeichert. Schweiz, USA, Kanada, Australien, Schweden und 0049-Nummern. Zahlen als Verheißung, Zahlen als Chiffre für ein besseres Leben. Eritreische Nummern hat Yonas kaum. Wozu auch? Seit Jahren sind die Telefonverbindungen zwischen den Erzfeinden Eritrea und Äthiopien gekappt.

"Ich kann nicht schwimmen und die Boote nach Italien sinken oft. Seitdem Gaddafi gestürzt ist, glauben die Revolutionäre, wir seien seine Söldner gewesen, und töten uns. Wer es über den Sinai nach Israel versucht, trifft oft auf Banditen, die uns töten, um unsere Organe zu verkaufen. Für eine Niere soll es Tausende Dollar geben. Mein Freund Ambesajer hat gesagt, ich soll es nicht versuchen. Zu gefährlich", sagt Yonas und bleibt. Vorerst.

Habtu Russom jedoch erschienen die Verheißungen des Lebens im Westen größer als die Risiken der Flucht. Sieben Jahre lang versuchte der Informatik-Student zu fliehen, immer wieder landete er in Foltergefängnissen, mehrmals wäre er beinahe gestorben, einmal hätte er es fast ins vermeintliche Paradies geschafft. Fast.

Bei seinem vorerst letzten Versuch, nach Europa zu gelangen, überquerte Russom zu Fuß die sudanesische Grenze. Auf der anderen Seite traf er auf Menschenhändler. 300 Dollar, die er sich von seiner Familie geliehen hatte, zahlte er den Schmugglern, damit sie ihn in die Hauptstadt Khartum bringen sollten. Dort werde er gut bezahlte Arbeit finden oder könne die Reise nach Europa fortsetzen, hatten die skrupellosen Geschäftemacher ihm erzählt. 24 Männer und Frauen, die auf das Versprechen reinfielen, pferchten sie auf der Ladefläche eines Toyota-Pick-ups zusammen. Die menschliche Schmuggelware deckten sie mit einer Plane ab und rasten mit den blinden Passagieren jenseits der Hauptstraßen nach Westen, nach Khartum. 23 der 24 Passagiere erreichten das erste Ziel ihrer Odyssee lebendig. "Eine Frau erstickte unter der Plane. Sie hieß Tsigue. Sie war 24 Jahre alt", erzählt Russom.

In Khartum zahlte Russoum anderen Schmugglern 1000 Dollar. Dafür sollten sie ihn an die libysche Küste bringen. 38 Menschen quetschten die Menschenhändler diesmal auf einen Pick-up. Nach drei Tagen brach das Auto in der Wüste zusammen. 15 Tage dauerte es, bis die schwer bewaffneten Gangster die nötigen Ersatzteile beschafft und den Wagen wieder flottgemacht hatten. In das Wasser, das sie den Flüchtlingen gaben, mischten sie Motoröl, damit die bereits halb verdursteten Menschen weniger tranken. Nachts vergewaltigten sie die Frauen, während Komplizen die Ehemänner mit Kalaschnikows in Schach hielten. Als die verzweifelten Menschen schließlich an der Küste ankamen, gab es etwas mehr Platz auf dem Geländewagen. Zwei Frauen und sechs Männer überlebten die Höllenfahrt nicht, ihre Leichen wurden einfach von der Ladefläche gestoßen.

Doch das Schlimmste sollte noch kommen. In der Nähe der libyschen Küstenstadt Zliten ging Russom nachts an Bord eines schrottreifen Fischerboots. 518 andere Flüchtlinge will er gezählt haben. Nach rund 20 Stunden Fahrt geriet das völlig überladene Boot in einen Sturm und in Seenot. Weil der irakische Kapitän und seine drei Besatzungsmitglieder kein Wort Englisch sprachen, musste Russom per Funk einen Notruf absetzen. "Nach mehreren Stunden kamen endlich Schiffe. Doch sie hatten Angst vor uns. Erst als die Frauen die Babys in die Höhe hielten, nahmen sie uns an Bord", erinnert Russom sich, der schon fest damit gerechnet hatte, auf der Flucht zu ertrinken.

Die Flüchtlinge kamen auf Malta in Abschiebehaft, wurden trotz Hungerstreiks nach Asmara geflogen. Als der Deserteur wieder in dasselbe Gefängnis eingeliefert wurde, in dem er vor seiner Flucht einsaß, begrüßten die Folterschergen ihn mit "Willkommen daheim". 2009 gelang Russom erneut die Flucht. Diesmal blieb er im Flüchtlingslager in Äthiopien. Die Odyssee durch die Wüste und übers Meer will er nicht noch einmal wagen. Wie die anderen rund 15 000 Bewohner des Flüchtlingslagers Mai-Aini hofft er, dass der eritreische Diktator Isayas Afewerki irgendwann gestürzt wird, er in ein demokratisches Eritrea zurückkehren kann.

"Die Flüchtlinge im Lager hören viel zu selten Geschichten von gescheiterten Fluchtversuchen. Sie kriegen immer nur mit, wenn einer es nach Europa geschafft hat und Geld nach Eritrea schickt ", beklagt Andemariam Yemane. Der 26-Jährige weiß ohne nachzurechnen, dass er seit 1217 Tagen in Mai-Aini lebt. Fünfmal in der Woche informiert der ehemalige Journalismus-Student die Flüchtlinge per Lautsprecherdurchsagen. Heute berichtet er unter anderem, dass das International Rescue Committee im Lager kostenlos Damenbinden verteilt. Fast jeden Tag warnt er auch vor den Gefahren der Flucht. "Die Leute denken, alles wird gut, wenn sie es nur nach Europa schaffen. Ich sage ihnen, dass auch das Leben als illegaler Einwanderer im Paradies die Hölle sein kann", sagt der Journalist.

Yordanos Tewelde hört auf die Stimme aus dem metallisch scheppernden Lautsprecher. Mit einer Freundin ist die 15-Jährige vor eineinhalb Jahren aus Eritrea geflohen. Sie wollte ihrem Vater in die Schweiz nachfolgen. Als sie im Lager davon hörte, dass viele Frauen auf der Flucht durch die Wüste vergewaltigt werden, entschloss sie sich, im Flüchtlingslager zu bleiben. Vorerst. Alle zwei Wochen telefoniert sie mit ihrem Vater, alle zwei Monate schickt er ihr 100 Dollar. "Mein Vater hat mir versprochen, dass er mich nachholt. Er will mit der Botschaft in der Schweiz sprechen. Dann kann ich mit einem Flugzeug zu ihm fliegen und muss nicht durch die Wüste", sagt Yordanos. Seitdem ihr Vater ihr gesagt hat, dass sie gut ausgebildet sein muss, um in der Schweiz einen Job zu finden, lernt Yordanos Englisch. Die eifrige Schülerin: "In der Schweiz möchte ich in einem Büro arbeiten. An einem Computer."