Hamburg. Gemeinsam mit Richard Golz will der frühere St.-Pauli-Coach Andreas Bergmann den Neuaufbau bei Altona 93 gestalten.

Am 1. Juni übernahm Andreas Bergmann (61) das Traineramt von Berkan Algan bei Altona 93. Dem Abendblatt gibt der frühere St.-Pauli-Coach sein erstes großes Interview.

Hamburger Abendblatt: Herr Bergmann, inwieweit wird Ihre Arbeit mit der Mannschaft von Corona beeinflusst, und wie lautet Ihr Fahrplan für die nächsten Wochen?

Andreas Bergmann: Es ist eine besondere und komplizierte Zeit mit vielen Fragezeichen. Momentan weiß niemand, wann wir wieder mit dem kompletten Team mit Vollkontakt trainieren oder als nächsten Schritt Testspiele abhalten können. Wir trainieren aktuell zweimal die Woche mit Abstandsregeln bei reduzierter Belastung. Die Spieler sollen im Rhythmus bleiben. Auch die Kaderplanung ist nicht einfach. Grundsätzlich ist es unter diesen Bedingungen schwierig, die Leistungsfähigkeit von Spielern gerecht zu beurteilen. Wir versuchen, durch ein motivierendes Training Spaß und Leidenschaft zu vermitteln. Die Eigenmotivation der Spieler nach der Corona-Pause erwarte ich aber, und die ist auch vorhanden. Schließlich durften die Spieler lange nicht auf den Platz. Wenn wir wissen, wann es wieder losgeht, werden wir eine Woche frei machen – und dann gezielt in die Vorbereitung einsteigen.

Wann, glauben Sie denn, kann die neue Regionalligasaison beginnen?

Bergmann: Ich hoffe, so zeitnah wie möglich. Theoretisch kann das für uns ja im August der Fall sein, falls der Lotto-Pokal ab dem Viertelfinale wieder aufgenommen wird. Selbstverständlich muss der Ligastart gesundheitlich verantwortbar für alle Beteiligten sein.

Was reizt Sie grundsätzlich am Trainerjob bei Altona 93?

Bergmann: Ich sehe Altona 93 als einen sympathischen Traditionsclub mit gesellschaftlicher Verantwortung. Auch sportlich ist Altona ein hochinteressanter Verein, der jetzt neue Wege gehen will. Dabei möchte ich mit meiner Erfahrung und Expertise mithelfen, etwas aufzubauen. Für mich ist es einfach eine tolle Aufgabe, den Neuaufbau des Vereins mitzugestalten und eine junge Mannschaft mit echten Perspektiven zu entwickeln. Richard Golz und ich haben uns so ein Projekt schon seit Längerem gewünscht: Wenn so ein Verein kommt, dann packen wir das gemeinsam an. Nun ist er sportlicher Leiter, und ich bin der Trainer. Außerdem verbindet uns beide eine besondere Geschichte mit Altona 93.

Welche?

Bergmann: In der Saison 2007/2008 war ich Nachwuchschef von Hannover 96 und Trainer des U-23-Teams. Am 9. Mai 2008 traten wir im Saisonendspurt der Oberliga Nord in Altona an. Es ging um die Qualifikation für die neue Regionalliga Nord. Wir waren in Torwartnot, und ich fragte Richard, der damals bei den Profis war, ob er einspringt. Gleich zu Beginn der Partie zeigte er eine Parade nach einem Kopfball. Doch nach fünf Minuten zog er sich bei einer Rettungsgrätsche außerhalb des Strafraums einen Muskelbündelriss zu. Das war leider das letzte Spiel seiner Karriere und ich sein letzter Trainer. Immerhin spielten wir 1:1. Beide Teams qualifizierten sich für die Regionalliga.

Ihre Verbindung zu Golz riss nie ab.

Bergmann: Für einige Zeit waren wir gemeinsam für das Berliner Start-Up KICK ID tätig, wo ich immer noch sportlicher Leiter bin. Unser Geschäftsfeld ist die digitale Leistungsbeurteilung im Fußball, sowohl im Profi- als auch im Amateurbereich. Von uns erhobene sinnvolle Daten liefern Erkenntnisse, welche die Trainerarbeit im Wettkampf und Training optimieren.

Wie wollen Sie beide denn nun Altona 93 neu aufstellen?

Bergmann: Richard Golz und ich wollen Altona 93 als gesamten Club weiterentwickeln. Ich verstehe mich zum Beispiel nicht nur als Trainer der ersten Mannschaft. Ich werde den intensiven Austausch mit den Jugendtrainern suchen. Auch die zweite Mannschaft haben wir im Blick. Dabei geht es uns nicht darum, alles besser zu wissen. Wir wollen die Verantwortlichen mitnehmen und auch deren Kompetenzen mit einfließen lassen. Mannschaften entwickeln, Trainer entwickeln, Spieler entwickeln. Für unser Ziel, die erste Mannschaft in der Regionalliga Nord zu etablieren, suchen wir hungrige Spieler mit Ambitionen. Wenn es irgendwie geht, sollen sie aus dem Hamburger Raum kommen. Es gibt so viele Jungs, die nicht gesichtet oder woanders aussortiert werden, es aber durchaus schaffen können.

Wie sehen Sie denn Ihre bisherige Trainerkarriere in der Rückschau?

Bergmann: Ich bin Diplom- und Fußball-Lehrer geworden um etwas zu bewirken, aufzubauen und zu entwickeln. Die Aufgabe ist entscheidend und nicht die öffentliche Wahrnehmung. Eigentlich hatte ich nicht die Ambition, unbedingt Cheftrainer im Profibereich zu werden. Das sieht man auch an meiner Karriere. Ich war oft als sportlicher Leiter in verschiedenen Bundesliga-Nachwuchsleistungszentren tätig, habe gemeinsam mit meinen Mitarbeitern zahlreichen Spielern den Eintritt in den Profifußball ermöglicht. Als ich am 29. März 2004 den FC St. Pauli übernahm, habe ich aus meiner Sicht meine erste große Bewährungsprobe als Cheftrainer bestanden – auf die ich sehr stolz bin.

Die B-Serie kam doch erst in der Saison 2005/06.

Bergmann: Ich rede nicht von der B-Serie (St. Pauli hatte im DFB-Pokal nur Gegner, die mit dem Buchstaben B begannen, die Red.). Der damalige Einzug ins Pokalhalbfinale als Regionalligist war grandios. Doch eine größere Herausforderung war es, den FC St. Pauli 2004/05 vor dem Abstieg zu retten. Der Club war bereits zweimal abgestiegen, ein Durchmarsch von der Bundesliga wäre ein Rekordabstieg gewesen: in 36 Monaten von der Ersten in die Vierte Liga. Und dann sitzt du da bei deiner ersten großen Trainerstation auf der Bank, das Stadion ist voll, die Mannschaft verunsichert, und alle im Club sagen dir: Du darfst nicht absteigen. Wir wissen nicht, wie es hier dann weitergehen soll. Wäre es damals schiefgegangen, hätte das den FC St. Pauli wirtschaftlich extrem getroffen. Ob noch eine zweite Retteraktion gelungen wäre, weiß kein Mensch.

So gesehen hatten Sie zweimal Anteil an der wirtschaftlichen Rettung des FC St. Pauli. St. Paulis Ex-Präsident Corny Littmann offenbarte später, ohne den Einzug ins DFB-Pokalhalbfinale hätte der Club große Schwierigkeiten bei der Lizenz bekommen.

Bergmann: Klar, auch darauf bin ich stolz. In gewissem Sinne haben wir alle ein bisschen Geschichte für den Club geschrieben. Mir war bei den damaligen Spielen vor allem wichtig, dass wir einen klaren Plan haben und uns niemals verstecken. Egal gegen welchen Gegner. Das ging schon beim ersten Spiel gegen Burghausen los. Wir haben sie beispielsweise in Räumen attackiert, in denen sie es nicht erwartet haben. Und dann stieg natürlich von Runde zu Runde das Selbstvertrauen.

Ihr wohl bitterstes Kapitel als Trainer folgte bei Ihrer zweiten Station bei Hannover 96, als sich Robert Enke das Leben nahm.

Bergmann: Ja, das hat uns allen sehr wehgetan. Es war schwierig, mit Roberts Entscheidung umzugehen. Wir alle trauerten sehr um ihn. Gleichzeitig sollten wir Leistung bringen. Stimmte diese nicht, wurde das sofort auf unsere Trauer zurückgeführt. Das war ein kaum zu bewältigender Spagat. Das war für alle eine Ausnahmesituation, aus der ich gelernt habe, was im Leben wirklich zählt. Einfach bewusster zu leben und nicht so fremdgesteuert zu sein. Sondern seinen eigenen Erwartungen zu folgen.

Was glauben Sie: Hat der Profifußball nach Enke auch dazugelernt?

Bergmann: Manche Gesetzmäßigkeiten haben sich leider nicht verändert. Aber ich bin froh, dass es die Robert–Enke-Stiftung als Anlaufstelle für Betroffene gibt. Das Thema Depressionen erfährt in der Öffentlichkeit insgesamt etwas mehr Beachtung. Sie hat durch Robert ein Gesicht bekommen. Das ist gut. Wir sind alle nur Menschen. Mit Ängsten und mit Schwächen. Oftmals auch wegen der Erwartungshaltung von außen. Dies wahrzunehmen und sich bei Bedarf Hilfe suchen zu können, damit die eigene seelische Gesundheit nicht leidet, ist sehr wichtig und sollte selbstverständlich werden, ohne gesellschaftlichen Vorurteilen ausgesetzt zu sein.

Eine ganz andere Ausnahmesituation erwartete Sie nach Ihrem Engagement beim VfL Bochum bei Hansa Rostock, Ihrer vorerst letzten Trainerstation. Sie hätten fast gar nicht angefangen …

Bergmann: Ja, das stimmt. Das war 2013, und ich war nun mal bis 2006 Trainer beim FC St. Pauli, dessen Werte mir sehr nahestehen. Also fragte ich mich, ob ich wirklich nach Rostock gehen kann. Denn mir war durchaus bekannt, was über den Club so erzählt wird und dass es dort auch eine kleine Gruppe von Fans gibt, mit denen ich vermutlich nicht auf derselben Wellenlänge sein werde. Schließlich entschied ich, es zu machen. Und ich habe in Rostock großartige Menschen kennengelernt. Mir war auch nicht bekannt, wie viele soziale Aktionen der Club initiiert. Das hat mir wieder gezeigt, wie falsch pauschale Vorurteile sind.

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Und Ärger gab es keinen?

Bergmann: Na ja, ich habe mich den Leuten in Diskussionen gestellt, die zu vielen gesellschaftlichen Themen völlig anders dachten als ich. Das war mir sehr wichtig. Ich habe versucht, ihnen meine Sichtweise darzulegen. Um es mal so auszudrücken: Wir kamen kaum auf einen gemeinsamen Nenner, aber nur im Dialog kann man etwas bewirken.

Altona 93 dürfte Ihnen da näherstehen. Aber auch an der Adolf-Jäger-Kampfbahn diskutieren die Fans gerne mal direkt mit dem Trainer. Sind Sie dafür nach dem Spiel zu haben?

Bergmann: Gegen ein gemeinsames Getränk habe ich nichts einzuwenden. (lacht) Das gehört für mich dazu.