Hamburg. Richter, seit zwei Monaten Manager des SC Victoria, gilt als polarisierendes Wunderkind des Hamburger Amateurfußballs.

Wenn Jean-Pierre Richter über seine neue Aufgabe spricht, gerät er ins Schwärmen. „Der SC Victoria ist ein toller Verein. Ein wunderbares Stadion, eine riesige Tradition, ein großer Name in Hamburg. Diese Chance musste ich ergreifen“, sagt Richter.

Seit zwei Monaten ist der 29-Jährige Manager des Traditikonsklubs von der Hoheluft. Spieler wie die späteren Stars des FC Bayern München Walter Junghans und Stefan Effenberg verdienten sich in der Jugendabteilung des Vereins ihre erste fußballerische Anerkennung.

Victoria ist Hamburgs erfolgreichster Amateurfußballverein

Seit einem Jahrzehnt ist Victoria – von den Fans liebevoll „Vicky“ genannt – der erfolgreichste in Hamburg spielende Amateurfußballverein. Fünfmal (2006-2010, 2012) triumphierte der Club in der höchsten Spielklasse Hamburgs (5. Liga) und holte die Oberligameisterschaft, dreimal (2007, 2010, 2012) feierte der Verein den Sieg im Amateurpokal, schlug 2010 sogar den Zweitligisten Rot-Weiß-Oberhausen mit 1:0 in der ersten DFB-Pokalrunde, kickte zudem zwei Jahre (2013, 2014) in der viertklassigen Regionalliga Nord.

Jean-Pierre Richter ist seit zwei Monaten der jüngste Manager in der Oberliga Hamburg. Es macht den Eindruck, als fühle er sich pudelwohl. In gewisser Weise hat sich für ihn ein Kreis geschlossen. Seine Beschreibung des SC Victoria hört sich phasenweise so an, als sei er im Paradies gelandet. Was passt.

Karriere jenseits des Feldes begann im Garten

Seine ungewöhnliche Karriere jenseits des Feldes begann in einem Garten. Präsident Klaus Ulbricht bot bei sich daheim dem 23-jährigen Jungspund Richter umrahmt von frischem Grün die Übernahme der Liga-Mannschaft des FC Süderelbe in der sechstklassigen Landesliga Hammonia an. „Ich war ziemlich platt und bin zunächst wieder heimgefahren, habe mich mit meinen Eltern besprochen. Dann wusste ich: Ich mache das“, erinnert er sich.

Zugute kam ihm für den Sprung ins kalte Wasser sein spezielles Schicksal als Spieler. Richter war durchaus talentiert, spielte gemeinsam mit den heutigen Profis Max Kruse (Werder Bremen) und Martin Harnik (Hannover 96) in dem berühmten A-Jugend-Jahrgang des SC Vier- und Marschlande, dem unter dem heutigen Klub Kosova-Trainer Thorsten Beyer 2006 der Sprung in die A-Jugend-Bundesliga glückte.

Doch eine Fülle von Verletzungen vereitelte die Träume von Toren des Offensivspielers in vollen Bundesligastadien. „Da habe ich eine andere Leidenschaft in mir entdeckt. Spieler nach vorne bringen, sie entwickeln“, sagt er heute. Die Karriere, die er nicht haben konnte, wollte er nun anderen ermöglichen.

Polarisierendes Wunderkind des Hamburger Amateurfußballs

So wurde Richter zunächst Jugendcoach. Und dank Ulbrichts Garten-Angebot 2010 der jüngste Trainer auf diesem Niveau im Hamburger Amateurfußball. Die Anfangszeit fiel ihm schwer. Manche Kollegen hätten ihn nur als „Jungpisser“ wahrgenommen, sagt er heute. Danach jedoch entwickelte sich Richter zu einem viel gepriesenen, aber auch polarisierenden Wunderkind des Hamburger Amateurfußballs.

Da war einerseits der spezielle „ Jean-Pierre-Richter-Fußball“. Eine Hommage ans schöne Spiel. Viele kurze, flache Pässe, laufintensiv, taktisch sehr variabel, gespickt mit überraschenden Positionswechseln. Der Landesliga-Abstiegskandidat vom Kiesbarg wandelte sich unter Richters Regie zum Oberliga-Spitzenteam.

Spieler wie Mirco Bergmann, Tolga Tüter, Yannick Petzschke und Samuel Louca waren plötzlich nicht mehr nur Insidern bekannt. In der abgelaufenen Saison wurde Süderelbe, in der erst zweiten Saison nach dem Oberligaaufstieg, überragender Vierter. Anderseits stieß der ehrgeizige Jungcoach mit der Zeit auf den Widerstand einiger Alteingesessener im Verein. Sie bemängelten seine Nähe zur von ihm selbstgebastelten Mannschaft.

Kleidungsstil zeigt schon den Unterschied

Schon sein Kleidungsstil zeigte exemplarisch den Unterschied. Richter, meist mit verkehrt herum aufgesetzter Mütze wie ein cooler Hip-Hopper unterwegs, erzeugte Misstrauen. Auch mit seiner für einen Mitzwanziger exzellent ausgefeilten Rhetorik, die oftmals in interessante, aber eben lange und wortgewaltige Antworten mündete. Richter selbst wiederum, beruflich mittlerweile zum Qualitätsmanager aufgestiegen, beklagte zuletzt mehrmals, er müsse „für das Team alles selber machen, benötige mehr Unterstützung des Vereins“.

Die sportlich höchst erfolgreiche Ehe zwischen ihm und dem FC Süderelbe wurde schließlich geschieden. Und nun ist Richter – wieder einmal – der Jüngste auf einer herausgehobenen Position. Diesmal als Manager des SC Victoria. Interessant: Kaum war er im Amt, polarisierte er schon wieder. Im „Sport Mikrofon“ hatte Richter zuvor gesagt, er werde sich nach seiner Zeit in Süderelbe „nicht gleich ins nächste gemachte Bett“ legen. Prompt wurde ihm das vorgehalten, als er nach dem Ausschlagen eines Co-Trainer-Angebotes des Regionalligisten VfB Lübeck bei Vicky anfing. Zudem spekulierte die Branche reichlich darüber, dass er ja wohl bald den aktuellen Coach des SC Victoria, Jasmin Bajramovic (35), beerben würde. Außerdem soll er Spieler von anderen Vereinen angesprochen haben, ohne die Vereine zu informieren.

"Habe nicht vor, Jasmin Bajramovic zu beerben"

Oberliga-Rivale Barmbek-Uhlenhorst äußerte öffentlich entsprechende Kritik durch Vorstandsmitglied Volker Brumm. „Das Zitat im „Sport Mikrofon“ bezog sich ganz klar auf eine Tätigkeit als Trainer. Ich bin aber kein Trainer mehr, sondern Manager. Ich habe nicht vor, Jasmin Bajramovic zu beerben, ganz im Gegenteil. Und das mit den Spielern stimmt so auch nicht. Bietet sich ein Spieler wie Pascal El Nemr von sich aus bei uns an, wäre ich ein schlechter Manager, wenn ich nicht tätig werden würde. Über die Gespräche war Barmbek-Uhlenhorst aber sehr wohl informiert“, sagt Richter.

Viel lieber als über sein Image will er über seine Tätigkeit für den SC Victoria sprechen. Mit Trainer Jasmin Bajramovic stehe er in ständigem Kontakt. „Unser Denk- und Herangehensweise in Sachen Fußball ist sehr ähnlich. Wir möchten eine junge Mannschaft entwickeln, die einen eleganten und erfolgreichen Fußball spielt. Dafür werde ich dem Trainer den Rücken freihalten, damit er sich voll auf die Mannschaft konzentrieren kann.“

Attraktiv werden soll Victoria nicht nur auf dem Feld – sondern auch für potenziell wechselwillige Spieler mit Regionalliga-Ambitionen. „Wir wollen als potenzieller Melder für die Regionalliga Nord gesehen werden. Ob es dann letztlich klappt, hängt von vielen Dingen wie den finanziellen Rahmenbedingungen ab.“ Der große Umbruch mit dem Abgang vieler gestandener Spieler im Sommer und der extremen Verjüngung der Mannschaft sei also keineswegs automatisch mit der Aufgabe des Anspruchs auf einen Aufstieg verbunden.

Größtes Lob vom Manager-Altmeister

Das größte Lob erhält Richter übrigens von einem Manager-Altmeister: Ronald Lotz (49). Er trug als Manager für die Oberligamannschaft von 2006–2014 viel zu den großen Erfolgen Victorias in der jüngsten Vergangenheit bei. In seiner Funktion als Fußballabteilungsleiter holte er Richter zum SC Victoria. „Jean-Pierre besitzt eine Menge Empathie, kann Menschen zusammenführen. Er denkt sehr wirtschaftlich, arbeitet akribisch, löst Probleme, schont sich nicht. Ich bin nach den ersten zwei Monaten fasziniert und begeistert von seiner Arbeit. Das kommt meiner Vorstellung von der Arbeit eines Managers extrem nahe. Ich kann es mir kaum besser vorstellen“, sagt Lotz.

Und – was angesichts des Endes in Süderelbe nicht einer gewissen Ironie entbehrt: „ Jean-Pierre hat bei Süderelbe alles Mögliche gemacht. Er hat dort Erfahrung in sämtlichen Bereichen gesammelt. Das hilft ihm enorm.“ Vielleicht ist das die größte Qualität des leidenschaftlichen und selbstbewussten fußballverrückten Jean-Pierre Richter: Er lernt niemals aus.