Sonntag für Sonntag lassen sich Hunderte junger Schiedsrichter auf den Fußballplätzen der Republik beleidigen und beschimpfen. Für Spieler und Fans sind sie der Feind. Doch sie machen weiter. Warum nur?

Hamburg. Eine hohe Flanke segelt in den Strafraum, zwei Spieler sprinten dem Ball energisch entgegen, die Augen nur nach oben gerichtet. Sekundenbruchteile später liegt einer von ihnen auf der roten Asche und hält sich die Hände vors Gesicht. Kurz darauf ertönt ein schriller Pfiff. Niclaas Rother, im schwarzen Dress und mit der Pfeife im Mund, hat auf Stürmerfoul entschieden.

Der Angreifer mit der Nummer neun kann es nicht fassen. „Nein, Mann“, ruft er mit bebender Stimme. Mit fuchtelnden Händen wendet er sich ab. „Kommen Sie bitte her“, sagt Niclaas ruhig. Obwohl der Schiedsrichter erst 16 Jahre alt ist, und der Spieler noch ein, zwei Jahre jünger, siezt er ihn. Niclaas holt den Missetäter zu sich – das soll die Situation beruhigen. Dann zieht er die Gelbe Karte.

Die Hamburger Turnerschaft 1816 spielt gegen den TSV Buchholz, C-Jugend, es geht hin und her. In der spätsommerlichen Sonne wischen sich die jungen Spieler ein Gemisch aus Schweiß und Aschestaub von der Stirn. Es ist ein Spiel, wie es in Deutschland, dem Land des Fußball-Weltmeisters, jedes Wochenende tausendfach gespielt wird. „Unsere Amateure. Echte Profis“, lautet der Slogan des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) dazu.

Doch nicht immer sind die Profis die besten Vorbilder. Längst wird auch in der Kreisklasse und in Jugendspielen verbissen um jeden Ball gekämpft, jede Entscheidung theatralisch lamentiert und diskutiert. Mitten drin: die Schiedsrichter. Kaum ein Pfiff, den sie nicht rechtfertigen müssen – vor den Fußballern, aber auch vor aufgebrachten Zuschauern am Spielfeldrand. Die „Männer in Schwarz“, wie die Referees auch genannt werden, sind die schwarzen Schafe des Amateurfußballs. Tore und Paraden werden gefeiert, doch wer ein Foulspiel pfeift, bringt immer eine Seite gegen sich auf.

Warum lässt man sich das gefallen?

Wer lässt sich so etwas freiwillig gefallen – und vor allem warum? Niclaas muss es wissen, auch wenn er erst seit einem Jahr als Schiedsrichter dabei ist. Die sechs Euro Aufwandsentschädigung, die er pro Spiel erhält, wiegen seinen Einsatz nicht auf. „Die Spieler zu beruhigen, das macht mir Spaß“, sagt er schulterzuckend und schüttelt die Frage ab wie eine lästige Fliege. Das Ideal, auf dem Platz für Gerechtigkeit zu sorgen, ist es, was ihn antreibt. Offenbar steht er damit nicht allein da.

„Wir haben einen guten Zugang zu den jungen Leuten“, sagt Carsten Byernetzki, stellvertretender Geschäftsführer des Hamburger Fußballverbandes (HFV). „Schwieriger ist, die Leute im besten Schiedsrichteralter, mit 25 bis 40 Jahren, zu halten.“ Mangelnder Respekt vor ihren Leistungen sei sicherlich für einige ein Grund aufzuhören. Ein Gewaltproblem gebe es in Hamburg aber nicht.

Ganz anders im niedersächsischen Celle. „Schlagen, treten, spucken – das ist in den vergangenen zwei, drei Jahren immer mehr geworden. Die Hemmschwelle sinkt“, beklagt Michael Frede, Schiedsrichter-Obmann in dem Kreis. Alleine seit April habe es vier körperliche Attacken auf die Schiedsrichter gegeben – trotz der Sommerpause. Meist sind es Spieler, die auffällig werden, doch auch Betreuer und Zuschauer schrecken nicht vor Angriffen zurück. „Rassistische Äußerungen, Schubsereien... die Palette ist vielfältig“, berichtet er.

Dabei war das Fair Play, mit dem sich der Weltverband Fifa bis heute schmückt, ein originärer Bestandteil des Fußballs. In den Anfangsjahren in England war der Schiedsrichter eine absolute Respektsperson. Als vor rund 120 Jahren der Elfmeter eingeführt wurde, wehrten sich einige Vereine: Kein Spieler käme doch auf die Idee, seinen Gegner absichtlich unfair zu stoppen, sagten sie.

Diese Zeiten sind vorbei, das hat auch Niclaas längst erfahren. „Ich habe auch schon erlebt, wie Zuschauer mir gedroht haben: Wir sehen uns nach dem Spiel, du wirst nicht heil nach Hause kommen – solche Sachen.“ Der Zehntklässler schüttelt den Kopf, aber er lächelt dabei. Damals hatten ihm die Drohungen Angst gemacht. Dass Emotionen zum Fußball dazugehören, weiß er – fürs Schiedsrichtern hat er sich erst interessiert, als er als Torwart selbst einmal eine Rote Karte bekam. Unberechtigt, wie er sagt. Aber Drohungen, das geht zu weit.

Tritte, Schläge, Beleidigungen

Damit es gar nicht erst zu Ausschreitungen kommt, setzt der Hamburger Verband auf Prävention. Seit einigen Jahren können Jugendmannschaften „Coolnesstage“ mitmachen. Darin sollen sie lernen, mit Provokationen umzugehen. Spieler, die mit groben Unsportlichkeiten aufgefallen sind, können das Programm ebenfalls absolvieren und ihre Sperre so reduzieren. „Die Rückfallquote liegt bei fast null Prozent“, berichtet Byernetzki stolz.

In Celle haben sie andere Schlüsse aus der Eskalation gezogen. Als zu Beginn der Saison im August gleich wieder die Polizei anrücken musste, weil ein Referee gewürgt wurde, reichte es dem Kreisverband: Für die folgenden zwei Spieltage wurden keine neutralen Unparteiischen angesetzt. Antreten mussten die Vereine trotzdem. „Bevor ich einen Kollegen im Krankenhaus besuchen muss, wollten wir ein Zeichen setzen“, erklärt Obmann Frede.

Der Boykott schreckte auf, wie gewünscht. Aus dem ganzen Land melden sich nun andere Schiedsrichter, die weitermachen wollen, aber sagen: „Gut, dass mal etwas passiert.“ Trainer und Offizielle hingegen fühlen sich von der pauschalen Absage ungerecht bestraft. „Die Gewalt zieht sich durch alle Spielklassen und Vereine“, entgegnet Frede. „Da kann sich keiner von freisprechen.“

Eine Untersuchung der Kriminologin Thaya Vester von der Universität Tübingen unterstützt diese Behauptung. Für eine Pilotstudie zum Thema Gewalt im Amateurfußball, die 2013 veröffentlicht wurde, hat Vester rund 2600 Schiedsrichter des Württembergischen Fußballverbandes (WFV) nach ihren Erfahrungen gefragt. Das Ergebnis: Jeder Sechste gab an, schon einmal tätlich angegriffen worden zu sein. „Bei tatsächlicher körperlicher Gewalt ist alles dabei“, sagt Vester. „Von der Ohrfeige bis zum Tritt in die Geschlechtsteile, auch Schiedsrichter, die sich im Heizungskeller verstecken müssen.“

Noch alltäglicher sind Beleidigungen. Nur einer von sieben Schiedsrichtern musste diese Erfahrung laut der Studie noch nicht machen. Oft werden die Aggressionen von außen ins Spiel getragen. „Eltern und Großeltern neigen leider immer mehr dazu, ihre Kinder am Spielfeldrand extrem zu pushen“, sagt Vester.

Gewalt ist kein neues Phänomen

Tatsächlich wird selbst beim nahezu verwaisten Jugendspiel auf dem Ascheplatz in Hamburg gemeckert und gezetert. Zur zweiten Halbzeit setzt sich ein Mann um die 70 an den Spielfeldrand. Kaum ist er da, kommentiert er das Spiel aus dem Halbschatten heraus: „Mann, Schiri, was war das denn? Der pfeift sich was zurecht...“ Dass er sich über einen Minderjährigen mokiert, ist ihm egal.

Nehmen die Angriffe auf die Schiedsrichter zu? Das kann Kriminologin Vester nicht bestätigen. In den 2000er-Jahren habe es in Deutschland und der Schweiz temporäre Anstiege gegeben. „Aber im Großen und Ganzen sind die Zahlen eher gleichbleibend.“ Verbale Ausfälle würden häufiger, ja. Ein neues Phänomen sei die Gewalt aber keineswegs.

Frede, der Schiedsrichter-Vorstand aus Celle, fordert dennoch eine langfristige Entwicklung, ein Umdenken. „Viele Vereine haben nur das nächste Spiel im Kopf, die nächsten drei Punkte. Das ist zu kurz gedacht.“

Das nächste Spiel, der nächste Anpfiff wird auch für Niclaas Rother folgen. Die Begegnung HT 16 gegen Buchholz hat er beendet, kurz vor Schluss war es nach einem umstrittenen Elfmeter noch einmal brenzlig geworden. „Alles normal“, sagt Niclaas trotzdem. Die paar Rufe in seine Richtung bringen ihn nicht von seinem Weg ab, er kennt es ja auch nicht anders. „Ich will auf jeden Fall weitermachen“, sagt er. „Ich pfeife, solange es geht.“